KAPITEL 1

Erwartete und unerwartete Besucher

Nico

5 … Ich hasse das!

4 … Scheiße! Scheiße! Scheiße!

3 … Warum tue ich mir das an?

2 … Ich kann nicht mehr!

1 …

Mit einem lauten Keuchen lasse ich die Hantelstange mit den Gewichten, die bei den tiefen Kniebeugen in Ausfallschritt auf meinen Schultern lag, auf den Boden von Daniels außerordentlich gut ausgerüstetem Fitnessraum fallen. Reconditioning, nach einer Pause den Körper wieder auf das Niveau bringen, das man als Leistungssportler eben braucht, ist verdammt hart!

Ein lauter, aber dumpfer Aufprall, gefolgt von dem typischen Klirren von Metall auf Metall, sagt mir, dass mein lieber Mann es mir gleichgetan hat. Aber ich bin zu sehr damit beschäftigt, wieder Luft in meine Lungen zu pumpen und meine schmerzenden Oberschenkel zu reiben, um zu ihm hinüberzusehen.

Es sind nur noch sechs Wochen bis zum Start der neuen Eishockeysaison und wenn ich ehrlich bin, muss ich zugeben, dass Daniel und ich das Training in den letzten Wochen etwas vernachlässigt haben. Nein, wir haben nie komplett aufgehört, aber das bisschen Joggen und Sonnenuntergangsyoga, zu dem Daniel mich überredet hat, ist natürlich nicht mit dem Pensum, das wir normalerweise absolvieren, zu vergleichen.

Und dann auch noch das Essen! Ich verfluche jeden einzelnen Cupcake, zu dem mich Vincent, mein bester Freund, überredet hat.

Aber warum tue ich mir dieses Wahnsinnsprogramm überhaupt an? Habe ich nicht vor ein paar Wochen meine Eishockeyschuhe für immer an den Nagel gehängt?

Ja.

Mein lieber Mann aber nicht.

Und es macht doch Spaß, etwas gemeinsam zu machen, oder?

Blödsinn!, lässt mir das Engelchen auf meiner Schulter mit einem genervten Schnauben diese Lüge nicht durchgehen. Und du tust es auch nicht, weil dir langweilig ist …

Ja, ja! Schon gut!

Ich tue es aus reiner Angst. Pushe meinen Körper bis an seine Grenzen, nur um auf keinen Fall darüber nachzudenken, was dieser Sommer als Nächstes für mich bereithält.

Eigentlich fing er ganz wunderbar an. Nachdem ich mit Sack und Pack bei Daniel eingezogen war, gab er mir gerade einmal zehn Tage zum Ankommen und Auspacken. Dann hat mein lieber Mann mich mit einer absoluten Traumreise überrascht: drei Wochen Hawaii. Unsere eigene Villa mit Privatstrand. Meilenweit herrliches Meer. Sonne. Und nur wir beide. Es war wie ein wahrgewordener Traum.

Dann kam die Hochzeit meines besten Freundes. Wir sind einmal quer über den Globus gereist und doch war Vincents Vermählung eine seltsame Erfahrung. Einerseits habe ich mein Heimatland dabei aus einer ganz neuen Perspektive kennengelernt. Eigentlich hatte ich mir geschworen, nie wieder nach Hause zu kommen, da dieses Fleckchen Erde alles repräsentiert, was falsch und schlecht in meinem Leben gelaufen ist. 

Aber mit Daniel an meiner Seite war alles anders. Seine Großeltern empfingen mich herzlich. Von der Fehde zwischen unseren beiden Familien, die mein Vater beinahe bei jeder Mahlzeit auf den Tisch brachte, war hier nichts zu spüren. Stattdessen saß ich zwei warmherzigen Menschen gegenüber, die mich mit offenen Armen willkommen hießen. In meiner Brust breitet sich immer noch ein ganz spezielles, warmes Gefühl aus, wenn ich nur daran denke. Es war etwas ganz Besonderes, einfach so akzeptiert zu werden – ohne Fragen, ohne Bedingungen.

Dann war es Zeit für die Hochzeit und ich war Vincents Trauzeuge – worüber seine Jetzt-Frau nicht übertrieben glücklich war. Warum? Penelope und ich waren in der Schule für zwei Jahre ein Paar. Sie hat mir das Ende unserer Beziehung nie wirklich verziehen, auch wenn es nicht besonders dramatisch war. Aus offensichtlichen Gründen ist nie viel zwischen uns gelaufen – weder körperlich noch emotional.

Was für mich aber wesentlich schwieriger war, war die Tatsache, gemeinsam mit Daniel in einem Raum zu sein. Neben ihm zu sitzen. Die Liebe zwischen zwei Menschen zu feiern. Aber dabei ständig darauf zu achten, genug Abstand zwischen uns beiden zu halten.

Natürlich gab es Gerüchte über uns zwei. Es gab schließlich keinen plausiblen Grund, warum Daniel auf Vincents und Penelopes Hochzeit sein sollte. Ja, wir waren alle gemeinsam in der Schule, aber Freunde waren wir nie. Und dann kam heraus, dass er als mein Plus Eins da war …

Wir haben nicht dementiert, was wir füreinander sind, haben es aber auch nicht bestätigt. Dadurch konnten wir viele Dinge nicht tun, die ich aber gerne getan hätte, wie zum Beispiel Daniel zu küssen. Ständig habe ich glückliche Pärchen um uns herum gesehen, allen voran das Brautpaar, die sich küssten. Oder Daniels Hand zu halten. Oder ihn zu umarmen. Oder mit ihm zu tanzen …

Es war ein elendes Gefühl. Hätte Daniel etwas dagegen gehabt, wenn ich unseren Plan für diese Veranstaltung einfach über den Haufen geworfen und ihn geküsst hätte? Ganz sicher nicht. Aber dafür fehlte mir der Mut.

Gleichzeitig zerriss es mich innerlich. Zum ersten Mal in meinem Leben war ich glücklich. Glücklicher, als ich es mir je hätte ausmalen können. Die Wochen auf unserer privaten Insel haben mich irgendwie in eine trügliche Sicherheit eingehüllt. Da gab es nur uns und keinen Grund, irgendetwas zu verstecken. Ich hatte mich so an die kleinen Berührungen gewohnt, die Daniel mir, scheinbar ohne darüber nachzudenken, ständig zukommen ließ.

Und plötzlich war das wieder weg.

Ja, wir haben vor Monaten vereinbart, dass wir nicht verstecken wollen, wer wir sind. Aber wir wollten es auch nicht an die große Glocke hängen. Es würde früher oder später so oder so herauskommen.

Aber ist das noch okay für mich?

Ich will meinen Daniel. So wie auf Hawaii.

Ist das zu viel verlangt?

Es würde ein öffentliches Coming-out erfordern, weil Daniel ein viel zu großer Eishockeystar ist. Er wäre dann der erste offiziell bisexuell lebende Eishockeyspieler in der NHL, der besten Eishockeyliga der Welt. 

Und es würde einen Medienzirkus geben, wenn das herauskäme. Einen riesigen Medienzirkus.

Doch als der Mann an seiner Seite würde ich mit ihm im Rampenlicht stehen. 

Mir wird bei dem Gedanken sofort schlecht. Jahrelang habe ich alles getan, um meine Sexualität zu verbergen, es vor allem und jedem geheim gehalten. Und jetzt soll eine ganze Menge mir unbekannter Menschen das über mich wissen?

Ich komme nicht umhin, festzustellen, dass meine Reaktion darauf nicht mehr so stark ist, wie sie es noch vor ein paar Wochen war.

Würde es eine herausfordernde Zeit werden? Ganz sicher.

Würde es toll werden, wenn unser Privatleben durch alle Medien geistert? Ganz sicher nicht.

Würde es vorbeigehen? Irgendwann ja. 

Und als Gegenleistung hätte ich Daniel endlich wirklich komplett für mich. In jedem Setting. Müsste nicht mehr aufpassen, was ich wo sage und wie ich mich wo verhalte.

Irgendwie erscheint mir diese Option immer verlockender.

Trotzdem habe ich Angst davor.

„Nächstes Set?“, fragt Daniel und bückt sich wieder nach seiner Langhantel.

Ich nicke und tue es ihm gleich, obwohl mich meine Oberschenkel- und Gesäßmuskulatur nach wie vor anschreien. 

Vielleicht schaffe ich es diesmal, alle Gedanken aus meinem Kopf zu verbannen. Denn was mir momentan ein Magengeschwür zu bereiten droht, ist in erster Linie nicht der Gedanke an das Coming-out, das Daniel und mir irgendwann bevorsteht, auch wenn das eine zwar nicht die Nerven beruhigende, aber dennoch gute Ablenkung ist. Nein, ich pushe mich gerade so und versuche, damit alles zu verdrängen, weil wir heute Abend noch Besuch bekommen.

Daniels beste Freunde Benjamin und Elisabeth werden für ein paar Tage unsere Gäste sein. Sie werden mit uns hier in diesem Haus leben, werden 24 Stunden am Tag um uns sein.

Wie soll ich mich da bloß verhalten? Ich liebe es, Daniel um mich zu haben, wenn es nur wir beide sind. Liebe es, wie aufmerksam er ist. Liebe, wenn er mich mit Kosenamen anspricht, wie er mich einfach so umarmt oder küsst.

Aber wenn der Rest der Welt dazukommt, wird es schwierig. Es ist, als würden Millionen von Ameisen unter meiner Haut laufen. Ich vermisse Daniels Nähe so sehr. Gleichzeitig droht mir meine Nervosität beim Gedanken daran, dass einer von uns einen Fehler machen und uns verraten könnte, meine Kehle zuzuschnüren.

Aber jetzt kommen Freunde zu uns ins Haus. Freunde, die wissen, dass wir Hals über Kopf ineinander verliebt sind. Wäre es okay, wenn Daniel mich da auf die Wange küssen würde, wie er es getan hat, während wir die Gewichte auf die Langhanteln aufgeladen haben? Oder wäre das superpeinlich? Unpassend? Zu viel?

„15“, zählt Daniel laut. Ich sinke auf sein Kommando tief in den Ausfallschritt, konzentriere mich auf das Brennen meiner Muskeln und lasse alles andere ziehen.

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