KAPITEL 1

Auf Umwegen zur Liebe

Linus

Es ist kurz vor den Sommerferien. Nur noch zwei Tage Schule, dann sind wir erlöst. Für immer! Ich kann die Freiheit beinahe riechen. 

Mit ausladenden Schritten gehe ich über den mit weißem Kies ausgestreuten Schulhof direkt auf das alte Grand Hotel zu, das nun als Internatsgebäude dient. Ich erlaube mir nicht, zu zögern. Ich habe einen Plan. Und komme, was wolle, ich werde diesen Plan heute in die Tat umsetzen. Mein Magen zieht sich bei dem Gedanken schmerzhaft zusammen, aber ich zwinge mich, es zu ignorieren.

Stattdessen atme ich tief durch. Die Luft ist frisch, aber bereits mit einem Hauch von Hitze erfüllt, der von den kommenden heißen Monaten spricht. Das herrliche Wetter lässt die Schweizer Alpen noch einladender aussehen. Sogar den verdammten Gletscher kann ich in der Ferne glitzern sehen. Der heutige Tag ist ein einziges kitschiges Postkartenmotiv. Aber ich habe keinen Blick dafür.

Fast wie ein Dieb schleiche ich durch die leeren Gänge des altehrwürdigen Gebäudes. Obwohl ich als einer der Schüler natürlich hier sein darf, habe ich das Gefühl, etwas Verbotenes zu tun. 

Vorsichtig lenke ich meine Schritte die vertrauten Gänge entlang. Ich bin auf der Suche. Aber mein Gehör sagt mir genau, wohin ich gehen muss. Betörend schöne Klänge, die einem der Klaviere in einem der Musikzimmer entlockt werden, hallen durch die großzügigen, weiß getünchten Flure. 

Leise öffne ich die braune Holztür zu dem Raum, aus dem die wundervolle Musik dringt. Karl ist wie immer so in sein Spiel vertieft, dass er mich nicht bemerkt. Ohne ein Geräusch trete ich in den halb verdunkelten Raum. Mein Herz schlägt mir bis zum Hals, während meine Augen sich an das Halbdunkel gewöhnen. Warum besteht Karl immer darauf, die Vorhänge zuzuziehen, bevor er sich an ein Klavier setzt? Außerdem weigert er sich, das Licht einzuschalten. Es ist mir ein Rätsel, wie er so spielen kann. 

Vielleicht will er damit sein Image vom grübelnden Künstler noch weiter verstärken. Wobei … Karl war noch nie jemand, der sich Gedanken über sein Image macht …

Still stehe ich an der Tür. Nervös. Mit jeder Sekunde, die ich hier stehe, kann ich den jungen Mann vor mir klarer erkennen. Dunkle Haare, kantige Gesichtszüge, breite Schultern, kräftige Arme, die zielsicher seine Finger auf dem Instrument dorthin bewegen, wo sie gerade gebraucht werden.

Ein Zittern läuft durch meinen Körper. 

Ich habe einen Plan. Endlich werde ich es tun!

Seit Langem gibt es Gerüchte, dass Karl auf Männer stehen würde und heute habe ich seinen Zwillingsbruder bei einem Telefongespräch mit seiner Freundin erwischt, die dieses Gerücht in meinen Augen bestätigten.

Jetzt gibt es keine Ausrede mehr, es nicht zu tun.

Ich werde Karl heute küssen. 

Ich werde herausfinden, ob ich auch so bin.

Bei dem Gedanken wird mir ein bisschen schlecht.

Unruhig trete ich von einem Fuß auf den anderen. 

Noch hat Karl mich nicht bemerkt.

Noch könnte ich wieder aus dem Raum schleichen.

Ich lecke mir über die trockenen Lippen.

Nein, ich habe einen Plan.

Ich werde es tun!

Noch einmal lasse ich meinen Blick über den attraktiven Mann vor mir schweifen. Sein wilder brauner Haarschopf fällt ihm beinahe bis in die Augen. Hellblaue Augen – wie der kitschige Postkartenhimmel heute. Nicht, dass ich das in dem düsteren Raum erkennen könnte. Aber diese Augen verfolgen mich seit Jahren in meinen Träumen.

Bin ich in Karl verliebt?

Bin ich wirklich schwul?

Jetzt oder nie – versuche ich mir Mut zu machen.

Trotzdem stehe ich wie angewurzelt an meinem Platz neben der Tür.

Nur noch zwei Nächte in diesem Internat, rufe ich mir in Erinnerung. Wenn irgendetwas schief geht, brauche ich Karl nach übermorgen nie wiederzusehen.

Vorsichtig mache ich ein paar Schritte in den Raum hinein.

„Was willst du, Linus?“

Karls raue Stimme, die plötzlich über die Musik tönt, überrascht mich so sehr, dass mein Herz für einen Schlag aussetzt. 

Trotzdem gehe ich weiter.

Jetzt gibt es kein Zurück mehr.

Ohne dass das Musikstück stoppen würde, verfolgen Karls Augen jede meiner Bewegungen mit einer Intensität, die meine Haut zum Kribbeln bringt.

Mein Atem kommt nur noch stoßhaft. Trotzdem schaffe ich es irgendwie, den Raum zu durchqueren. Ohne weiter darüber nachzudenken, setze ich mich neben Karl auf den breiten, gut gepolsterten Klavierhocker. 

Obwohl der Hocker breit ist, ist er nur für eine Person gemacht. Plötzlich sind wir uns nahe. Viel zu nahe. Unangemessen nahe. Unsere Oberschenkel pressen sich gegeneinander. Ein heißes Gefühl durchströmt meinen Körper. Mein Herz schlägt mir bis zum Hals.

Da ist ein Rauschen in meinen Ohren. Es ist so laut, dass es einige Sekunden dauert, bis ich registriert habe, dass Karl aufgehört hat, seinem Lieblingsinstrument Töne zu entlocken.

Jetzt oder nie!

Zitternd hebe ich meine rechte Hand und lege sie Karl in den Nacken. Er weicht nicht zurück. Ich muss schlucken. Sein Blick wandert sofort zu meinem Hals und er beobachtet, wie sich die Muskeln dort bewegen. Dann leckt Karl sich über die Lippen.

Will er es auch?

Ich beuge mich nach vorne. Langsam lege ich meine Lippen auf seine, spüre ihre Wärme.

Für einen Moment passiert gar nichts. 

Habe ich mich getäuscht?

Es ist fast so, als ob ich die Sekunden in meinem Kopf schmerzhaft laut vorbeiticken hören kann. 

Dann seufzt Karl. Es ist ein Geräusch der Erleichterung. „Endlich“, sagt er laut – nicht ausgesprochen, aber ganz klar. Und dann küsst Karl mich zurück.

Mir wird schwindelig.

Ich tue es wirklich!

Ich küsse einen anderen Mann!

Ich küsse Karl!

Sein Geruch ist herb und doch irgendwie fruchtig.

Die starken Muskeln in seinem Nacken bewegen sich unter meiner Hand. 

Mein Schwanz wird in Sekundenschnelle steinhart.

Ja, denke ich noch, ich bin so was von schwul.

Dann denke ich auf einmal nichts mehr. Da ist nur noch das glorreiche Gefühl von seinen vollen zarten Lippen auf meinen.

Der Kuss scheint kein Ende zu nehmen. Es ist das beste Erlebnis meines Lebens. Mein ganzer Körper vibriert. Ich fühle mich so lebendig wie noch nie.

Auf einmal schallt ein lauter, dissonanter Klang durch den Raum. Erschrocken springe ich auf. Irgendwie muss ich mit meinem Ellbogen ans Klavier gekommen sein. Panik steigt in mir auf. Was ist, wenn das jemand gehört hat? Was ist, wenn jetzt jemand in den Raum kommt?

Was soll ich nur tun?

Ich bin nicht bereit, mich den Sprüchen der anderen Jungs auszusetzen. Ich habe keine Ahnung, wie ich damit umgehen soll, wenn mein tiefstes Geheimnis vor der ganzen Schule ausgebreitet wird. 

Ich kann das nicht!

In meinen Kopf gibt es nur noch einen Gedanken: Weg hier!

Ich stürze aus dem Raum.

Karl ruft meinen Namen. Laut. Wieder und wieder. Aber das macht alles nur noch schlimmer.

Ich kann nicht stehen bleiben. Kann ihm nicht ansehen. Kann dem, was ich gerade getan habe, nicht ins Gesicht sehen.

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