KAPITEL 1

Endlich Urlaub

Finn

Ein breites Grinsen zieht sich über mein Gesicht, während ich die wummernden Bässe nicht nur in meinem Brustkorb, sondern bis in meine Zehen spüren kann. Es tut so gut, hier zu sein! Diese Woche habe ich mir mehr als verdient.

Es war eine der besten Ideen, die ich jemals hatte, mir direkt hier im Elysium Hotel auf Mykonos ein Zimmer zu buchen. Der Vorteil, der es mit sich bringt, direkt in einem der besten Gay Clubs der herrlichen griechischen Insel zu wohnen … Ich bin mittendrin statt nur dabei. Einen besseren Urlaub kann es nicht geben.

Die Party findet sowohl im Pool als auch rundherum statt. Genüsslich lasse ich meinen Blick über die stattlichen Männerkörper schweifen, die gebräunten Arme und Oberkörper, die sich hier überall im Einklang mit der Musik bewegen, und seufze innerlich zufrieden. Ich bin angekommen. Kann endlich sein, wer ich wirklich bin. Für die langsam über dem Meer untergehende Sonne, die gerade die schönsten Farben in den Himmel malt, habe ich keinen Blick übrig.

Warum auch? Die Sonne geht auch in Göteborg unter. Auch über dem Meer. Das kann ich also ebenso zu Hause genießen. Die vielen halb nackten Männer hingegen, zwischen denen ich mich ungezwungen bewegen kann und nicht verbergen muss, welche Gedanken mir dabei durch den Kopf gehen, gibt es in Göteborg allerdings nicht.

Nur noch ein Jahr …

Ich grinse beinahe, als diese vier Worte in meinem Gehirn auftauchen. Gleichzeitig schüttle ich über mich selbst den Kopf. Noch vor einem Jahr hätte dieser Gedanke Wehmut in mir ausgelöst. Vor vier, fünf Jahren wären diese Worte schlichtweg undenkbar gewesen. Jetzt freue ich mich auf das, was sie repräsentieren.

Ich drehe den Strohhalm meines Drinks zwischen den Fingern meiner rechten Hand und nehme mir einen Moment, um über mein Leben zu reflektieren. Ich bin mittlerweile 34 Jahre alt und damit der älteste Spieler in meinem Eishockeyteam in der ersten schwedischen Liga, dem Frölunda HC. Ein Veteran. Vor Stolz schwillt meine Brust, als ich auf meine Karriere zurückblicke. Fünfmal schwedischer Meister. Vier Einsätze im schwedischen Nationalteam bei Olympischen Spielen. Was kann ich mir mehr wünschen?

Nun ja, ein weiterer Meistertitel könnte doch nicht schaden, oder? Diese Saison haben wir ihn knapp verpasst. Es war wie verhext. Genau umgekehrt zum Jahr zuvor, in dem man beinahe den Eindruck hätte bekommen können, dass wir nichts falsch machen können. Dieses Jahr hingegen ging einfach alles daneben. Es war so frustrierend!

Und enttäuschend. Natürlich war ich enttäuscht. Sehr sogar. Aber nach 16 Jahren in einer professionellen Liga sind die Tiefs glücklicherweise nicht mehr ganz so tief. Denn irgendwie, irgendwann hat sich mir das Wissen eingebrannt: Es gibt immer eine neue Saison – mit ihren ganzen Vor- und Nachteilen. Mit der harten Arbeit, den Niederlagen, aber auch den Siegen und den unglaublichen Hochs, die damit einhergehen.

Aber was mache ich da? Ja, ich wollte kurz innehalten und über mein verdammt gutes Leben reflektieren. Die Betonung dabei liegt auf kurz. Denn es ist eine Schande, jetzt ausführlich über Eishockey nachzudenken. Ich gönne mir nur eine Woche im Jahr, in der ich einen Teil von mir auslebe, den ich sonst in den Hintergrund dränge. 

Nein, ich habe kein Problem damit, dass ich schwul bin. Meine Familie weiß auch schon lange Bescheid. Aber ich habe es nie an die große Glocke gehängt. Es gab auch keinen Grund dafür, da es nie jemanden an meiner Seite gab, mit dem es wirklich ernst war, weil neben meiner ersten großen Liebe, dem Eishockey, einfach zu wenig Platz für eine Beziehung blieb. Wie machen das bloß meine Kollegen, die eine Freundin haben oder sogar verheiratet sind? Viele haben dazu noch Kinder. Ich schaffe es gerade so, Training, Essensplan, Spiele, Videosessions und die ganzen anderen Verpflichtungen unter einen Hut zu bringen. Aber all das ist nötig, damit ich für mein Team das Beste geben kann. Das haben sie verdient.

Doch wenn ich ganz ehrlich bin, ist es nicht der einzige Grund, warum ich in der Kabine nie zugegeben habe, dass mich die ewigen Gespräche über große Brüste und feuchte Muschis komplett kaltlassen. Ich hatte Angst. Schlicht und ergreifend Angst. 

Auf der einen Seite war ich mir ziemlich sicher, dass das Team und die Liga die Neuigkeiten gut aufnehmen würden. Schließlich leben wir nicht mehr in den Achtzigerjahren und Schweden ist ein ausgesprochen liberales Land. Außerdem scheinen sich Menschen mehr dafür zu interessieren, wer gut Eishockey spielt, als wer mit wem ins Bett geht. Aber „ziemlich sicher“ ist eben nicht „vollkommen sicher“. 

Mittlerweile bin ich mir „vollkommen sicher“. Letzten Sommer hat es mich beinahe aus den Socken gehauen, als während meines Urlaubs in Barcelona plötzlich mein Teamkollege Gabriel Verieux in allen Medien präsent war. Gemeinsam mit zwei anderen Eishockeyspielern aus seinem Heimatland Terengien haben sich die drei als die ersten professionellen Spieler geoutet. 

Wie oft habe ich mir das Video von der Pressekonferenz wohl angesehen? Ich kann es nicht einmal schätzen. Unzählige Male. Und die Bandbreite an Gefühlen, die dieses Interview in mir ausgelöst hat, ist ebenso groß. 

Überraschung – Verieux hat nie auch nur ansatzweise mein Gaydar ausgelöst.

Mitleid – Ich habe Verieux angesehen, dass er sich, so und zu diesem Thema plötzlich im Mittelpunkt stehend, überhaupt nicht wohlgefühlt hat.

Neid – Warum kann Verieux jetzt offen leben, während ich mich mit Mitte dreißig noch immer nicht traue, so zu leben, wie ich wirklich bin?

Wut – Warum leben wir in einer Welt, in der solche Interviews nötig sind?

Freude – Sicher wird es jetzt für alle queeren Spieler leichter.

Sehnsucht – Ich will auch einfach so sein und leben können, wie ich bin, ohne darauf achten zu müssen, was ich tue oder sage.

Und … wenn ich ganz, ganz ehrlich zu mir selbst bin. Sehnsucht nach einem echten Partner an meiner Seite. Endlich nicht mehr völlig alleine sein.

Das und mehr in stetiger Abfolge, manchmal gleich alles innerhalb einer einzigen Minute. Das Gefühlschaos in mir war so groß, dass ich nicht einmal meine „schwule Woche“ in Barcelona so richtig genießen konnte. Ich habe es nur in die Hälfte der Schwulenbars, in die ich mir zu gehen vorgenommen hatte, geschafft.

Stattdessen habe ich mir das Video angesehen. Wieder und wieder. In Dauerschleife.

Tausende Male habe ich überlegt, ob ich mich bei Verieux oder den beiden anderen Spielern melden sollte. Aber was hätte ich sagen sollen? „Hallo, ich bin auch schwul.“ Gerade Daniel Miller, einer der größten Stars der NHL, der besten Eishockeyliga der Welt, hat sicher Millionen solcher Nachrichten erhalten. Nein, da hätte er die von mir nicht auch noch gebraucht … Stattdessen habe ich auf dem Rückflug von Barcelona nach Göteborg beschlossen, mich Verieux gegenüber persönlich zu outen. 

Das ist dann aber nie passiert. Warum? Zu Beginn der neuen Eishockeysaison war er über Wochen so verdammt schlecht gelaunt, dass mir die Lust gehörig verging. Das wurde erst besser, als er und sein Magnus Anfang Oktober wieder zusammenkamen. Aber zu diesem Zeitpunkt war meine Entscheidung schon sehr schwach geworden, mein Mut gesunken und der Neid hatte überhandgenommen. Das glückliche Paar so zu sehen … Alles unter die Nase gerieben zu bekommen, was ich mir wünschte, aber nie haben konnte …

Gut, das stimmt so nicht ganz. Aber so hat es sich angefühlt.

Doch dieses Jahr werde ich mir die Laune nicht verderben lassen! Nein, in diesem Urlaub werde ich das Leben absolut genießen. Bereits letzten November habe ich gebucht, um auch garantiert ein Zimmer im Elysium zu bekommen. Ein Hotel mit einer eigenen Gay Bar – kann es etwas Besseres geben?

Während ich meinen Blick über die wogenden und tanzenden, öfter halb nackten als angezogenen Körper schweifen lasse und mein Herz vor Freude etwas schneller schlägt, kann es nur eine Antwort auf diese Frage geben: Nein! Es gibt nichts Besseres.

Ich bleibe neben der Bar stehen, an der ich mir vorhin einen Sex on the Beach geholt habe. Nomen est Omen – hoffe ich zumindest. Ich will heute definitiv noch einen der hier anwesenden Männer abschleppen. In mein Zimmer oder an den Strand – ganz egal. 

Ich nippe an meinem orangefarbenen Drink. Puh, der ist ziemlich stark. Egal, es wird sowieso der einzige Drink des heutigen Abends für mich bleiben. Erstens bin ich kein Fan davon, betrunken Sex zu haben, und zweitens haben diese Cocktails alle viel zu viele leere Kalorien. Trotzdem, oder gerade deswegen, genieße ich die Komposition aus säuerlichem Orangen- und Cranberrysaft umso mehr. Eins muss ich dem äußert attraktiven Barkeeper lassen: Er weiß, was er tut.

Mein Blick bleibt an zwei Männern hängen, die sich im aus zwei ineinander verschmelzenden Kreisen bestehenden Pool küssen. Oh, ist das geil! Ich muss meinem Schritt etwas zurechtrücken, denn mein Schwanz will bei diesem heißen Bild natürlich gleich mitreden.

Ein lautes Lachen lenkt meine Aufmerksamkeit nach links. Auf einer der weißen Liegen auf dieser Seite des Pools hat sich eine Gruppe von vier Männern niedergelassen. Sie scheinen schon ein paar Tage im Urlaub zu sein, denn selbst im schwachen Licht der untergehenden Sonne ist ihre sonnengebräunte Haut klar zu erkennen. Die zwei, die näher am Kopfteil der Liege sitzen, sind offensichtlich ein Pärchen. Frisch verliebt, würde ich schätzen, da sie die Finger kaum voneinander lassen können.

Die beiden anderen unterhalten sich. Einer von ihnen trägt eine ausgesprochen knappe Badehose in Neongrün und Grau und ein weißes Hemd darüber, das bis zum Bauchnabel aufgeknöpft ist. Mit den Händen gestikulierend, erzählt er dem mit einer kurzen schwarzen Hose und einem ebenso schwarzen Muskelshirt eher konservativ Gekleideten etwas, das ich von meinem Platz aus nicht verstehen kann. Anerkennend lasse ich meinen Blick über die beiden schweifen. Der Gesprächspartner der neongrünen Badehose hat dunkelblonde Haare und Vollbart und … wow, schwarze Nägel runden das Ensemble ab. 

Okay, die würde ich beide nicht von der Bettkante stoßen …

Während dieser Gedanke noch durch meinen Kopf zieht, hebt der in Schwarz gekleidete Mann den Kopf und sieht in meine Richtung, als hätte er mein Interesse gespürt. Mein Atem stockt und ein herrlich warmes Gefühl breitet sich in mir aus, als sich unsere Blicke finden. Die Zeit scheint plötzlich stillzustehen, während wir uns einfach nur ansehen. Für einen Moment ist es so, als würden nur wir zwei in diesem Universum existieren. Dann breitet sich das süßeste Lächeln auf seinen Lippen aus, das ich je gesehen habe. 

Niclas

„Also, morgen nach dem Frühstück müssen wir uns endlich aufraffen und zu den Windmühlen fahren“, sagt mein Freund Christoph bestimmt. Er ist Lehrer für Geschichte und Sport und etwas eingeschnappt, weil er mich und unsere zwei Mitreisenden nicht dafür begeistern kann, in der Mittagshitze zu den auf einem Hügel aufgereihten Windmühlen zu wandern, die zu den Wahrzeichen der Insel gehören und aus dem 16. Jahrhundert stammen. Falls ich mir das richtig gemerkt habe. Keine Garantie. Geschichte ist echt nicht mein Ding.

„Ja, ja …“, sagen Klaus, Berni und ich im Chor, nur um dann in schallendes Gelächter auszubrechen. Zum Glück bin ich mit meinem Desinteresse nicht alleine.

Christoph verzieht sein Gesicht zu einer Grimasse und murmelt noch „Kunstbanausen“, während er einen Schluck von seinem orangefarbenen Drink mit Ananasscheibe und Schirmchen nimmt. Ich habe schon wieder vergessen, was für ein Klischee er bestellt hat. Ich kann das süße Zeug auf den Tod nicht ausstehen. Da ist mir mein Mojito zehnmal lieber.

„Wenn wir schon hier sind …“, setzt Christoph noch einmal an, wird aber von Berni unterbrochen: „Dann wollen wir in Ruhe Party machen. Daheim ist die Auswahl eh wieder viel zu gering.“ Mit diesen Worten dreht er sich zu seinem Mann Klaus um. „Manchmal hasse ich es, dass wir auf dem Land wohnen.“ 

„Deswegen machen wir hier Urlaub“, sagt Klaus lachend und drückt seinem langjährigen Partner gut gelaunt einen Kuss auf die Schläfe. Die beiden lieben es, sich einen Dritten ins Bett zu holen. Das weiß ich nur zu gut, weil sie mich unzählige Male gefragt haben, ob ich nicht Lust hätte … 

Nein! Ganz klar nicht. Ich kenne die beiden schon so lange. Seit der Schulzeit, um genau zu sein. Das wäre, als würde mich mein Bruder fragen … Okay, nein, das ist auf keinen Fall ein Gedanke, den ich weiterverfolgen möchte. 

Aber mit einem hat Berni definitiv recht: Bozen hat keine lebhafte Schwulenszene. 

„Wie ist es in Göteborg?“, fragt Klaus. „Gute Szene?“

Ich zucke mit den Schultern. Generell sind die skandinavischen Länder sehr LGBTQIA+ freundlich und mit beinahe 600.000 Einwohnern ist die Stadt fast sechsmal so groß wie die Südtiroler Landeshauptstadt, in der ich aufgewachsen bin und in der ich die letzten Jahre gelebt habe. Das lässt auf etwas mehr Community hoffen. Aber all das hatte überhaupt keinen Einfluss darauf, warum ich nach diesem Urlaub meine Koffer packen und nach Schweden ziehen werde.

Wenn ich nur daran denke, ziehen sich meine Lippen zu einem breiten Grinsen auseinander. Ich kann es immer noch nicht fassen. Es ist eine Chance, wie ich sie mir nie erträumt hätte. Aber vielleicht, vielleicht habe ich sie mir verdient … wenn ich das selbst so sagen darf, ohne arg eingebildet zu klingen. 

Ich fühle mich ein bisschen größer, wenn ich an die vergangene Saison zurückdenke, in der ich als Cheftrainer die HCB Südtirol Foxes zum Sieg in der ICE Hockey League, der International Central European Hockey League, geführt habe. Es war etwas Besonderes, Cheftrainer für diesen Verein sein zu dürfen, der bereits 19 Mal italienischer Meister war, und ihn zum dritten Sieg in der ICE Hockey League zu führen. 

Wobei ich ja am liebsten beim ersten Mal Trainer gewesen wäre, als sie diesen speziellen Titel geholt haben. Es war die klassische Aschenputtel-Geschichte: Verein steigt 2013 neu in die Liga ein und schafft es gerade noch, vor Saisonbeginn überhaupt einen Kader aufzustellen. Das Budget betrug weniger als ein Viertel der anderen Vereine. Alle haben damit gerechnet, dass die Foxes irgendwo abgeschlagen in der unteren Tabellenhälfte landen würden. Aber ist das passiert? Nein. Sie haben sich den Meistertitel geholt! Ich glaube, das ist der Traum eines jeden Trainers, bei so einer Geschichte dabei zu sein. 

Leider war ich damals noch weit davon entfernt, Trainer einer professionellen Mannschaft zu werden. Zu der Zeit habe ich gerade erste Erfahrungen im Nachwuchsbereich gesammelt. Aber wer weiß, vielleicht ergibt sich ja noch einmal so eine Gelegenheit. Ich würde sie sicher sofort mit beiden Händen ergreifen.

„Träumst du schon wieder, Niclas?“, holt mich Christoph aus meinen Gedanken zurück. Ich blicke in drei grinsende Gesichter. Entschuldigend zucke ich mit den Schultern. Meine Freunde kennen mich alle viel zu gut. Sie wissen genau, was der Ausdruck im Gesicht bedeutet.

„Also, schon die besten Schwulenbars von Göteborg herausgesucht?“, hakt Klaus nach.

Ich schüttle den Kopf. „Ich bin zum Arbeiten dort.“

Als der Anruf kam, konnte ich es kaum glauben. Einer der besten schwedischen Vereine wollte mich als Trainer für ihre Verteidiger. Es ist eine unglaubliche Chance. Mehr, als ich für meine Laufbahn je zu hoffen gewagt hätte. Natürlich habe ich sofort zugesagt.

„Wir wissen alle, dass du ein ewiger Workaholic bist, aber 24 Stunden am Tag wirst du wohl doch nicht arbeiten“, legt Berni nach.

„Das ist meine Chance“, versuche ich, mich zu rechtfertigen.

Laut schlürft Christoph seinen Drink, bevor auch er sich ins Gespräch einmischt: „Jetzt, da Thomas nicht mehr die Beine für dich breit macht, solltest du dich wirklich umsehen.“

Fuck! Das tut weh. Muss er ausgerechnet Salz in die Wunde streuen? Der Anruf aus Schweden hat den damaligen Tag zu einem der besten meines Lebens gemacht, aber was danach folgte, wird ihm wohl für immer einen bitteren Beigeschmack verpassen …

Mein Blick schweift zu Christoph. Sein viel zu weit aufgeknöpftes weißes Hemd, das er über seiner Badehose trägt, flattert leicht im Wind. Im Halbdunkel seinen Gesichtsausdruck zu erkennen, ist schwierig, und so kann ich seine Worte nicht richtig deuten. Wie hat er das mit Thomas gemeint? Mein Ex und er waren immer gute Freunde. Wirft er mir jetzt das Beziehungsende vor? 

Dabei war es nicht ich, der Schluss gemacht hat. Ja, natürlich habe ich, als der Anruf aus Göteborg kam, sofort zugesagt. Aber mein Plan war es, mich in Ruhe mit Thomas hinzusetzen und über das Ganze zu reden. Was wären seine Ideen und Wünsche? Könnte er sich vorstellen, mit mir nach Schweden zu gehen oder sollten wir zumindest für das erste Jahr eine Fernbeziehung in Betracht ziehen? Wer weiß, ob das mit Göteborg auch wirklich klappt. 

Aber der Satz „Schatz, der Frölunda HC in Göteborg hat mir einen Job angeboten“ war noch nicht komplett aus meinem Mund, da hat Thomas schon abwehrend die Hände gehoben und „Nein, nein, nein, nein, nein“ gerufen.

Ich war wie vor den Kopf gestoßen und wusste im ersten Moment gar nicht, wozu Thomas eigentlich Nein gesagt hatte. Dazu, in ein anderes Land zu ziehen? Dazu, dass ich den Job wechsle? Dazu, weiter mit mir eine Beziehung zu führen?

Seine Reaktion raubte mir den Atem – und nicht im guten Sinne. Ich stand da und musste mich zwingen, ruhig zu bleiben, um das Zittern, das meinen ganzen Körper zu erfassen drohte, nicht zu zeigen. 

Der Schock und die Verletzung schlugen allerdings schnell in Wut um und das Ganze artete in einen sagenhaften Streit aus. Es schüttelt mich noch immer, wenn ich an die Episode zurückdenke. 

Ich seufze, als ich mir auch den Rest in Erinnerung rufe. Die Wahrheit, die ich viel zu lange verdrängt habe. Denn leider war das nicht der erste große Streit, den wir hatten. Wenn ich ganz ehrlich mit mir selber bin, muss ich zugeben, dass die Beziehung von Anfang an etwas holprig lief. In den letzten beiden Jahren hat Thomas wiederholt mit mir Schluss gemacht, um ein paar Tage darauf wieder bei mir auf der Matte zu stehen und so zu tun, als sei nichts gewesen.

Scheiße! Ich weiß eigentlich gar nicht, warum ich dabei mitgemacht habe. Das hätte doch ein Warnzeichen sein müssen, oder? Dass mich mein Partner, der Mensch, dem ich eigentlich am meisten vertraue, immer wieder so verletzt? Auch – und das ist mir erst in den letzten Wochen so richtig klar geworden – haben wir durch diese Masche nie etwas gelöst. Wir haben uns nie ausgesprochen. Alles wurde einfach immer unter den Teppich gekehrt – bis Thomas wieder einmal explodiert ist.

Nur wissen meine Freunde all das nicht. Ich war schon immer jemand, für den Beziehungen etwas sehr Privates sind. Ich bin nicht der Typ, der sich wegen Beziehungsproblemen bei seinen Freunden ausheult. Das geht niemanden etwas an – außer die beiden, die in einer Beziehung miteinander sind.

Thomas sah das ähnlich. Wenn wir mit Klaus, Christoph und Berni unterwegs waren, haben wir immer heile Welt gespielt. Vielleicht wäre es doch besser gewesen, sich eine externe Meinung einzuholen …

Aber dafür fehlten mir in den letzten Monaten ganz einfach die Zeit und die Nerven. Vielleicht habe ich auch deswegen, um mich abzulenken, während der Saison fast rund um die Uhr gearbeitet – was ebenfalls zu einem Streitpunkt mit Thomas wurde. Er hat einen gemütlichen Job im Marketing bei einem lokalen Holzmöbelproduzenten und nie verstanden, warum ich nicht immer Zeit für ihn hatte, sondern oft abends oder am Wochenende arbeiten musste. Aber das ist nun einmal der Job. Und es ist der beste Job der Welt!

An jenem besagten Abend, als ich ihm von dem schicksalhaften Anruf aus Schweden erzählen wollte, hat er mir ein Ultimatum gesetzt: Eishockey oder er. Er meinte, ich könne ja meine Ausbildung abschließen und als Sportlehrer in einer der örtlichen Schulen unterrichten. 

Es tat so weh, das zu hören, und ich war fassungslos. Kennt er mich denn so wenig?, war der erste Gedanke, der mir bei seinen Worten durch den Kopf ging. Das Sportstudium, das ich angefangen hatte, hat mir viel Spaß gemacht. Aber meine Leidenschaft war immer Eishockey. Das Lehramtsstudium hatte ich nur begonnen, weil ich nicht wusste, was ich sonst machen sollte. Ich war ein ganz passabler Eishockeyspieler, habe in der U16 und U18 der italienischen Nationalmannschaft gespielt, aber es war schon damals klar, dass es nicht zum Profi reichen würde. Weil ich meinen Sport aber intensiver erleben wollte, als neben meinem Studium in Innsbruck nur in einer Hobbymannschaft zu spielen, fing ich an, den Nachwuchs zu trainieren. So fand ich überraschend meine Bestimmung.

Nie hätte ich erwartet, dass ich mich so in den Trainerjob verlieben könnte, aber eine Gruppe von Menschen dabei anzuleiten, ein Team zu werden, zusammenzuarbeiten, damit es auf dem Eis so richtig fließt, dabei jeden einzelnen auf dem richtigen Platz einzusetzen, damit er oder sie die individuellen Stärken ausspielen kann, ihr Können zu verbessern und dann in Turnieren zu sehen, wie all das zusammenkommt – das gibt mir ein Hoch, das mit nichts anderem vergleichbar ist. Es ist unbeschreiblich.

Nach nur zwei Jahren habe ich mein Studium an den Nagel gehängt und mich dem Trainerdasein komplett gewidmet. Vom Innsbrucker Nachwuchs ging es als Assistenztrainer der Kampfmannschaft nach Salzburg und dann waren es die Foxes, die Mannschaft meiner Heimatstadt, die mir den Cheftrainerposten angeboten haben. Mit nur 30 Jahren. Und als ich dann auch noch Thomas kennengelernt hatte, dachte ich, dass das Leben nicht mehr besser werden könnte. Ich glaubte, alles zu haben, beruflich wie privat. Dass es in der Beziehung längst kriselte, ignorierte ich gekonnt – bis zum Anruf aus Schweden.

Bevor ich noch weiter in den letzten unangenehmen Wochen versinken kann, holt mich ein scharfes „Christoph!“, gerufen von Klaus, aus meinen Gedanken. Als mein Blick zu ihm schnellt, sehe ich, wie er unseren Freund wütend anfunkelt. Anscheinend lag ich doch nicht ganz daneben und in der Aussage war mehr versteckt, als ich hören konnte oder wollte.

Doch Christoph zuckt nur mit den Schultern und ich glaube, ein gemurmeltes „Ist doch wahr!“ zu hören, beschließe aber, es zu ignorieren. Die ganze Episode gibt unserem Abend zwar einen etwas sauren Beigeschmack, aber ich versuche, mich auf das große Ganze zu konzentrieren. Christoph war über die letzten Jahre ein guter Freund. Wenn er meint, sich jetzt auf Thomas’ Seite schlagen zu müssen, dann kann ich damit leben. Vielleicht ist es sogar gut. Ich werde in ein paar Wochen nach Schweden gehen, Thomas aber wird mit unserem alten Freundeskreis in Südtirol zurückbleiben. Es wäre unfair, jetzt noch einen Keil zwischen sie zu treiben, oder?

Also ignoriere ich die leise gezischten Worte zwischen Klaus und Christoph. Stattdessen schaue ich mich um, atme tief die herrliche Meeresluft ein und versuche, alle unangenehmen Gefühle, die die letzten Minuten wieder hervorgeholt haben, aus meinem Körper fließen zu lassen. Ich bin hier, auf dieser herrlichen Ferieninsel. Ich bin Single. Ich bin kurz davor, den größten Karriereschritt meines Lebens zu machen. Das Beziehungsende mit Thomas hat zwar wehgetan, war aber bitter nötig. Das hat mir der Abstand der letzten Wochen deutlich gezeigt. Ich sollte die Zeit, die ich hier bin, in vollen Zügen genießen. Wer weiß, wann ich das nächste Mal wieder so frei sein kann?

Eigentlich sollte ich gar nicht hier sein. Natürlich hatten Berni, Klaus und Christoph meinen Ex und mich gefragt, ob wir mit nach Mykonos kommen wollen, aber Thomas wollte lieber für zwei Wochen nach Sardinien fliegen. Nach der Trennung habe ich jedoch ganz spontan beschlossen, mit meinen Freunden zu fliegen, und bin jetzt unglaublich froh darüber – auch wenn Christoph hin und wieder blöde Kommentare ablässt. Es tut gut, mit den Dreien um die Häuser zu ziehen. Der einzige Wermutstropfen ist, dass ich hier im Elysium, wo meine Freunde wohnen, kein Zimmer mehr bekommen habe. 

Die letzten Nächte wollten sie lieber nach Klein Venedig kommen, dem Party- und Schwulenviertel von Mykonos Stadt, wo ich mich in einem Hotel einquartiert habe. Heute jedoch wollten wir endlich die berühmte Elysium-Pool-Bar ausprobieren und sie ist definitiv einen Besuch wert. Die letzten negativen Gefühle fallen von mir ab, als ich das hammermäßige Ambiente betrachte. 

Und die Männer erst …

Anerkennend lasse ich meinen Blick über die heißen Körper schweifen. Die letzten Nächte hatten Klaus, Berni, Christoph und ich viel Spaß auf dieser herrlichen Mittelmeerinsel. Wir haben getanzt, bis uns die Füße wehtaten. Aber eines habe ich, im Gegensatz zu meinen Freunden, nicht gemacht: Ich habe noch keinen Mann abgeschleppt. Irgendetwas in mir hat sich dagegen gesträubt. Ich weiß auch nicht, warum. Das mit Thomas und mir ist zu Ende und über den schlimmsten Trennungsschmerz bin ich auch schon hinweg. Trotzdem …

Da stocke ich. Mein Blick fängt den eines rothaarigen Hünen ein, der neben der Bar steht. Meine Haut prickelt plötzlich angenehm und mein Herz legt ein bisschen an Tempo zu, während sein Blick den meinen richtiggehend gefangen hält. Um nichts in der Welt könnte ich ihn abwenden. Möchte ich ihn abwenden. Da ist etwas zwischen uns. Unmittelbar. Sofort. So etwas habe ich noch nie erlebt.

Während mein Herz noch immer aufgeregt schlägt, grinse ich ihn breit an.