Sörenson verringert erneut die Geschwindigkeit des schwarzen Range Rovers, in dem wir jetzt seit fast einer Stunde über die Autobahn kriechen. Mittlerweile rollen wir mit weniger als 20 Kilometern pro Stunde. Das kann doch nicht wahr sein! Unruhig beiße ich auf meiner Unterlippe herum.
Mein bester Freund und Teamkollege aus der ersten schwedischen Eishockeyliga, Sören Sörenson, scheint meine Gedanken lesen zu können, denn er wirft mir einen besorgten Blick zu.
„Ich weiß, ich weiß …“, sage ich und hebe abwehrend die Hände, bevor er etwas sagen kann.
Ich weiß ja, dass er mir einen Gefallen tut und nichts dafür kann, dass Göteborg gerade im Schnee versinkt. Keine Übertreibung. Wir sind hier ja an das kühle Weiß gewöhnt, aber so einen Schneesturm habe ich in all den Jahren, die ich bereits in Schweden lebe, noch nie erlebt. Die Sicht ist gleich null. Obwohl es Vormittag ist, ist es beinahe nachtschwarz vor der Frontscheibe, nur unterbrochen von den weißen Flocken, die wie wild umhertänzeln.
Trotzdem bin ich bitter enttäuscht! Nachdem unser Verein, der in Göteborg ansässige Frölunda HC, diese Saison einen absolut bescheuerten Spielplan hatte und wir nicht einmal über Weihnachten zwei Tage Spielpause hatten, konnte ich für dieses Fest nicht nach Hause fliegen. Ich hasse das!
Ich liebe Weihnachten und ich will es am liebsten mit meiner Familie in Österreich verbringen. Doch in diesem Jahr waren mir die Spielplangötter nicht hold – übrigens nicht zum ersten Mal. Doch diesmal war es besonders blöd. In anderen Jahren, wenn es mir der Spielplan nicht erlaubte, in meine Heimat zu fliegen, ist meine Familie einfach zu mir gereist und wir haben die Feiertage gemeinsam in Schweden verbracht. Aber das war diesmal nicht möglich. Warum? Weil meine Schwester schwanger ist. Hochschwanger. So schwanger, dass mein Handy jeden Moment mit der frohen Botschaft klingeln könnte, dass das neue Familienmitglied endlich da ist.
Nach dem ganzen Weihnachtsdebakel haben wir jetzt wenigstens über Silvester fünf Tage frei, bevor das nächste Spiel ansteht. Natürlich habe ich einen Flug nach Wien gebucht. Erstens will ich meinen Neffen begrüßen, der sich noch immer nicht hat blicken lassen. Meine Schwester ist jetzt bereits acht Tage über dem errechneten Geburtstermin und absolut unausstehlich deswegen. Aber ich wollte auch ein paar Tage die Seele baumeln lassen. Mich von meiner Mutter verwöhnen lassen. Mir den Bauch mit heimischen Köstlichkeiten vollschlagen. Für ein paar Tage einfach an ganz andere Sachen als Eishockey denken.
Daraus wird wohl nichts.
Normalerweise brauche ich von meiner Wohnung nicht einmal eine halbe Stunde, um zum Flughafen zu gelangen. Wir sind mittlerweile schon über 50 Minuten unterwegs und haben noch nicht einmal die Hälfte der Strecke zurückgelegt. Stattdessen ist der Verkehr auf der Autobahn beinahe zum Erliegen gekommen – und wir stecken mittendrin!
Ja, wegen der Wettervorhersage habe ich genug Zeit eingeplant, um zum Flughafen zu kommen. Bis zum Abflug sind es noch mehr als zwei Stunden. Aber wenn das hier so weitergeht …
Auf einmal piepst mein Handy.
Vielleicht ist das meine Schwester mit der Nachricht, dass der Kleine endlich da ist. Ein Silvesterbaby wäre doch eine coole Sache, oder? Aufgeregt ziehe ich das Handy aus meiner Hosentasche.
Aber es ist etwas ganz anderes. Eine Benachrichtigung der Airline. Mein Herz sinkt. Mit einem unguten Gefühl drücke ich auf die unscheinbare Betreffzeile: Update Flug FR 1587.
Die Nachricht öffnet sich und dort steht meine Befürchtung schwarz auf weiß: Es tut uns leid, Sie darüber informieren zu müssen, dass aufgrund der aktuellen Wetterlage der Flughafen Göteborg-Landvetter bis auf Weiteres gesperrt und der gesamte Flugverkehr eingestellt wurde. Bei Fragen …
Ich lese nicht mehr weiter.
Mit einem Seufzen lasse ich mich zurück in meinen Sitz fallen, schließe die Augen und schlage ein paar Mal mit dem Kopf gegen die Nackenstütze.
„Alles okay?“ Sörenson klingt besorgt.
Nein, nichts ist okay! Ich habe mich so auf die kommenden Tage gefreut. Auf die herrlichen Palatschinken meiner Mutter, die ich in etwa fünf Stunden essen wollte. Dann ein kurzes Nickerchen, bevor ich mich mit Freunden treffe …
Mein bester Freund kann nichts dafür, dass der Flug gestrichen wurde. Wahrscheinlich sollte ich mich wie ein Erwachsener benehmen …
Also seufze ich noch einmal und spreche die Worte aus, die das Ende der Welt für mich bedeuten: „Der Flug wurde gecancelt …“
„Das tut mir echt leid, Mann“, antwortet Sörenson – auch wenn seine Stimmlage klarmacht, dass das für ihn keine überraschende Information ist.
War es für mich auch nicht. Trotzdem bin ich enttäuscht. Unendlich enttäuscht.
Mit meinen Freunden wollte ich auf den Silvesterpfad gehen. Zu Silvester wird die Wiener Innenstadt zu einer einzigen Partyzone. Auf zehn Bühnen, die im ersten Bezirk verteilt sind, wird verschiedenste Musik gespielt. Um Mitternacht läuten dann alle Glocken des Stephansdoms, inklusive der Pummerin – der größten Glocke. Wir hatten geplant, im Schatten des Doms zu den Klängen des Donauwalzers ins neue Jahr zu starten.
Und falls ich dazwischen einen Anruf kriegen sollte, dass mein kleiner Neffe mittlerweile das Licht der Welt erblickt hätte – umso besser. Ich wäre durchaus bereit, das Feiern zu unterbrechen, um das neueste Mitglied meiner Familie begrüßen zu können.
Aber nichts von dem wird jetzt geschehen. Es ist zum Heulen!
Das Geräusch des Blinkers holt mich aus meinen Gedanken zurück. Anscheinend haben wir heute Glück im Unglück, denn vor uns befindet sich eine Autobahnausfahrt, sodass wir nicht noch eine Stunde im Stau stehen müssen, bevor wir überhaupt von der Autobahn abfahren können.
„Vielleicht kriegst du ja nachmittags noch einen Flug“, versucht Sörenson mich zu besänftigen, während er seinen großen SUV vorsichtig auf die Abbiegerspur manövriert. Trotz des Allradgetriebes schlittert der Wagen leicht, als mein bester Freund ihn über den Schneehügel lenkt, der sich zwischen den Spuren gebildet hat.
Ich greife nach dem Haltegriff über dem Fenster und klammere mich daran fest, bis die Reifen wieder Haftung haben. Beifahrer zu sein, hasse ich. Da bin ich so hilflos!
Aber Sörenson hat die strenge Regel, dass außer ihm niemand seinen Range Rover fahren darf. Und nachdem er sich extra Zeit genommen hat, um mich zum Flughafen zu fahren, konnte ich ihm deswegen nicht einmal blöd kommen …
„Also, Nachmittagsflüge …“, drängt mein bester Freund noch einmal, während er unbeeindruckt vom Verhalten seines Autos die Autobahnausfahrt hinunterfährt.
Ich schüttle den Kopf: „Die sind sicher alle schon weg. Es ist Silvester. Und außerdem, hast du dir die Wettervorhersage angesehen?“
Sörenson wirft mir einen Blick zu, was mich dazu veranlasst, den Haltegriff noch fester zu umklammern. Bei solchen Bedingungen gehören beide Hände aufs Lenkrad und beide Augen auf die Straße. Und nicht einmal für eine Sekunde kommt etwas anderes infrage!
„Nein!“, meint Sörenson nur und zuckt mit den Achseln. Der Gute … Ich hatte die Hoffnung, es noch aus Schweden hinauszuschaffen, bevor der schlimmste Teil des Schneesturmes Göteborg trifft. Aber das weiße Treiben vor der Windschutzscheibe macht klar, was für ein leerer Wunschtraum das war.
In dem Moment unterbricht ein weiteres Bimmeln unser Gespräch. Automatisch beginnt die Sprechanlage des Autos, mit dem Sörensons Handy offensichtlich verbunden ist, eine SMS mit einer künstlich klingenden Frauenstimme vorzulesen:
„Hallo zusammen! So wie es aussieht, wird das wohl heute nichts mit der Party in der Hütte am See. Habe versucht, hinzukommen … Brauchte vier Personen, um mein Auto wieder aus den Schneewehen herauszuschieben. Party findet jetzt im Hockey-Haus statt. Für alle, die es herschaffen. Liebe Grüße Chris“
„So weit zu meinen Plänen“, kichert Sörenson.
„Du wolltest mit Little Chris und den anderen Neulingen feiern?“, frage ich und kann dabei nicht verhindern, dass eine gewisse Skepsis in meiner Stimme mitschwingt.
„Warum denn nicht?“, gibt er entspannt zurück.
Ich kann nur den Kopf schütteln. In zwei Monaten werde ich meinen 24. Geburtstag feiern. Ich bin also weit weg von alt. Aber … Christian Griendstrom, gerade 18, ist dieses Jahr von der Nachwuchsmannschaft der Frölunda zu uns in die erste Liga aufgerückt. Genannt wird er von allen nur Little Chris, weil wir schon ewig einen Kristensen, den alle Krisi nennen, in der Mannschaft haben. Little Chris hasst seinen Spitznamen, was uns nur dazu bringt, ihn noch mehr zu benutzen. Gemeinsam mit einigen Freunden, von denen die meisten noch in der Nachwuchsliga spielen, hat er sich am Stadtrand ein Haus gemietet, in dem sie nun alle wohnen: das Hockey-Haus.
Ich war nur einmal auf einer Party dort und kam mir vor, als würde ich aus einer anderen Generation stammen – und nicht nur sechs Jahre älter sein als der Durchschnittspartygast. Alleine die Musik … ein nicht zu unterdrückendes Schaudern läuft durch meinen Körper.
Offensichtlich ist das Sörenson nicht entgangen. Er lacht: „Immer noch von der letzten Party dort unter Schock?“
Ich nicke wortlos, was meinen besten Freund nur zu noch mehr Lachen animiert. Aber was solls. Da bleibe ich lieber heute Abend alleine, bevor ich wieder ins Hockey-Haus gehe. Vielleicht hat ja der Supermarkt ums Eck noch offen. Wenn ich schon auf Palatschinken, meine Familie, meinen irgendwann-muss-er-doch-noch-kommen-Neffen und meine Freunde verzichten muss, dann könnte ich mir wenigstens für den heutigen Abend eine Riesenportion Eis gönnen. Mein Lieblingssupermarkt hat Literpackungen mit dem selbst gemachten Eis vom besten Italiener der Stadt zur Auswahl. Vielleicht kann ich meinen Kummer ja in leeren Kalorien ertränken.
„Vorschlag“, unterbricht Sörenson meine trüben Gedanken. „Ich lasse das Hockey-Haus sausen und wir beide feiern in meiner Wohnung“, er wirft mir kurz einen Blick zu und gesteht dann: „Ich wäre nicht böse drum, wenn ich das Haus heute nicht mehr verlassen müsste.“
Jetzt bin ich derjenige, der herzlich lachen muss. Vielleicht bin ich doch nicht der Einzige, der langsam älter wird.
Ich versuche, mir nichts anmerken zu lassen, aber wenn ich ganz ehrlich zu mir selber bin, bin ich unglaublich froh, dass Dietrichs Flug abgesagt wurde. Meine Eltern hassen den Winter und sind wie immer in der kalten Saison auf irgendeiner Insel, wo es wesentlich wärmer ist als hier. Und dann hat meine Freundin vor ein paar Wochen auch noch mit mir Schluss gemacht.
Schon Weihnachten war eine äußerst einsame und deprimierende Angelegenheit. Weil ich nicht schon wieder ganz alleine in meiner Wohnung sitzen wollte, habe ich zugesagt, als Little Chris nach dem letzten Spiel in der Kabine laut herumgebrüllt hat, dass die Party in der Hütte seiner Eltern am See steigt und wir alle eingeladen seien. Lust hatte ich nicht wirklich darauf, aber, wie gesagt, besser als einsam und allein zu Hause zu sitzen.
Natürlich würde ich das nicht laut zugeben. Stattdessen schiebe ich das Wetter vor. Wofür gibt es denn sonst solche Schneestürme?
Ich höre das typisch herzliche Tom-Dietrich-Lachen, doch schließlich meint er: „Das hört sich nach einem Plan an. Hast du noch etwas von der herrlichen Whiskey-Verkostung übrig?“
Oh, die Whiskey-Verkostung. Mein Vater war der Meinung, dass es ein tolles Geburtstagsgeschenk für mich wäre, mir einen Whiskey-Sommelier nach Hause zu schicken. Ja, die gibt es wirklich. Ich war völlig baff. Und wenn ich ganz ehrlich bin, auch etwas mit der Situation überfordert. Ich trinke nämlich während der Saison so gut wie keinen Alkohol.
Aber Dietrich und zwei andere Teamkollegen, die an meinem Geburtstag vorbeigekommen waren, hielten es für eine super Sache. Seit fast zehn Monaten stehen die noch beinahe vollen Whiskeyflaschen bei mir im Schrank. Meine Erkenntnis der Verkostung: Ich mag das Zeug nicht. Im Gegensatz zu Dietrich, wie es scheint.
„Ja, ist noch da“, gebe ich grummelig zu. Ich will an den Abend nicht unbedingt erinnert werden. Oder besser gesagt, der Abend war okay, aber wir hatten am nächsten Tag ein Spiel und ich hatte die Mutter aller Kopfschmerzen, die sich über den ganzen Tag nicht abschütteln ließ. Ich denke, ich brauche nicht zu erwähnen, dass ich an dem Abend grauenhaft gespielt habe. Der Coach wäre mir wohl am liebsten an die Gurgel gegangen, aber nachdem wir wegen einiger Verletzungen einen etwas schwachen Kader hatten, musste er mich das komplette Spiel auf dem Eis lassen. Selbst ich konnte nicht abstreiten, dass ich etwas grün um die Nase wirkte, als ich danach in die Dusche ging.
Okay, aber morgen ist kein Spiel. Genaugenommen haben wir sogar fünf ganze Tage, in denen nichts angesetzt ist: kein Training, kein Spiel – gar nichts. Es ist ein befreiendes Gefühl.
Okay, also warum nicht Whiskey.
„Getränke wären damit also geklärt“, stelle ich fest. „Was willst du essen?“
In meinem Kühlschrank befindet sich nur gesundes Zeug, das Dietrich absolut verachtet. Beneidenswert. Mein bester Freund kann essen, was er will, während ich, wenn ich nicht auf meine Ernährung achte, einpacken kann. Mein Körper hat dann nicht einmal genug Energie, um ein einziges Training zu überstehen. Topform trotz ungesundem Essen ist für mich leider eine Utopie. Es ist, was es ist …
„Hast du wieder nur dieses Kaninchenfutter zu Hause?“, fragt er mit einem breiten Grinsen im Gesicht. Er scheint sich von seiner Enttäuschung, den Jahreswechsel nicht mit seiner Familie feiern zu können, erstaunlich schnell erholt zu haben.
***
11:52 Uhr
Noch acht Minuten bis Mitternacht.
„Wo ist dein verdammtes iPad?“
Die Worte kommen leicht undeutlich aus Dietrichs Mund. Es ist gut 14 Stunden her, seit wir in meiner Wohnung angekommen sind und der Pegelstand in den Whiskeyflaschen ist deutlich gesunken – was indirekt proportional zu unserem ist.
Wohooo, ich glaube, mein Pegel ist im grünen Bereich – ich meine, wenn ich noch solche Sachen wie „indirekt proportional“ denken kann. Meine alte Mathelehrerin wäre stolz auf mich.
Ich fürchte, Dietrich ist etwas stärker angeheitert als ich. Daran konnte auch die fette Pizza, die er mich zu backen gezwungen hat, nur bedingt etwas ändern. Aber immerhin habe ich ihn dazu gebracht, keine dieser Fertigdinger zu kaufen. Wir haben alles selbst gemacht. Sogar den Teig.
Wobei … ob das die beste Idee war? Irgendwann ist Dietrich dazu übergegangen, aus dem Teig kleine Kügelchen zu formen und damit auf mich zu schießen. Ich will lieber nicht darüber nachdenken, in was für einem Zustand ich meine Küche morgen wiederfinden werde. Denn, was soll ich sagen … Dietrichs Treffgenauigkeit wird bei einem erhöhten Alkoholspiegel nicht gerade besser …
Aber das wird es wert gewesen sein, ich habe selten so viel gelacht. Könnte ich meine Putzfrau vielleicht überreden, morgen, auch wenn Feiertag ist, vorbeizukommen?
„Sörenson! Wo ist das verdammte iPad?“
Ich kichere über Dietrichs empörten Gesichtsausdruck, weil ich nicht sofort auf seine erste Nachfrage reagiert habe.
„Wofür brauchst du das jetzt?“, frage ich und stehe trotzdem bereits auf. Ich kann meinem besten Freund doch nichts abschlagen.
Uh … Ich fürchte, Dietrich ist doch nicht der Einzige, der etwas über den Durst getrunken hat. Während alles noch okay war, als ich gesessen habe, dreht sich jetzt der ganze Raum um mich. Ich klammere mich an der Armlehne meiner dunkelblauen Ledercouch fest, schließe die Augen fest und zähle langsam bis zehn. Dabei bete ich, dass der Raum aufhört, wie ein Derwisch zu tanzen, wenn ich es das nächste Mal wage, die Augen zu öffnen.
„Beeil dich, Mann!“
Dietrich gibt mir mit den Ellenbogen einen Stoß in die Rippen, der mich beinahe zu Boden wirft.
„He!“, beschwere ich mich. „Was soll diese plötzliche Obsession mit meinem iPad?“
Ich bin heute in Fahrt mit den ganzen Fremdwörtern. Erst indirekt proportional und jetzt Obsession …
„5 Minuten!“, kreischt Dietrich. „Wir müssen noch den Donauwalzer suchen.“
Der letzte Satz lässt mich überrascht herumfahren.
Oh!
Das war ein Fehler!
Alles dreht sich wieder.
„Ohne den Donauwalzer ist es doch nicht wirklich ein neues Jahr“, erklärt Dietrich in einem Tonfall, in dem man einem übermüdeten Fünfjährigen erklärt, dass eins und eins zwei ist.
Ich kann meinen besten Freund nur fragend anstarren. Wovon redet er bitte?
„Komm schon! Die Uhr tickt“, fährt dieser aber nur fort und macht nervige Schnalzgeräusche mit seiner Zunge.
iPad. Donauwalzer. In dem Moment fällt mir ein, wo ich es zuletzt gesehen habe. Schwungvoll ziehe es hinter einem der Sofakissen hervor und präsentiere es siegreich.
Dietrich reißt es mir sofort aus der Hand.
„Pin? Ernsthaft Sörenson? Wer stellt einen Pin auf seinem iPad ein?“
Ich offensichtlich.
„Gib her!“
Ich brauche drei Versuche, bis ich es schaffe, die unglaublich herausfordernde Zahlenfolge 1-3-5-7 einzutippen. Primzahlen. Meine Mathelehrerin hat wirklich ganze Arbeit geleistet. Oder gab es nicht irgendeine komische Ausnahme mit der eins …
Bevor ich weiter über Frau Sögren und den Inhalt ihrer Unterrichtsstunden nachdenken kann, entsperrt sich das Gerät endlich. Also halte ich es meinem Teamkollegen triumphierend entgegen. Dieser nimmt es und öffnet halb panisch die Safari-App.
„Eine Minute“, murmelt er und tippt den Namen des österreichischen Radiosenders Ö3 in die Suchfunktion des Browsers. Ich erkenne den ertönenden Jingle sofort. Wenn Dietrich manchmal normale Musik, anstatt seines ewigen Heavy-Metal-Gedröhnes hört, dann meistens diesen Sender. Allerdings spielen sie dort eher die aktuellen Charts …
„Ich glaube nicht, dass die gleich Strauss spielen“, gebe ich zu bedenken.
Aber Dietrich nickt zuversichtlich, lässt das iPad auf die Couch fallen und setzt sich direkt neben mich.
In diesem Moment beginnt auch schon der Countdown. Als der dunkelhaarige Mann dabei meine Hand in seine nimmt, bin ich zuerst überrascht. Aber es fühlt sich gut an. Unsere Blicke finden sich. Wir atmen in vollkommendem Gleichklang, während wir langsam herunterzählen.
5 …
4 …
3 …
2 …
1 …
Happy New Year!
Ich will meinen besten Freund umarmen, doch er neigt sich nach vorne, sodass seine Lippen mit meinen kollidieren. Seine Hand landet schwer in meinem Nacken und hält mich an Ort und Stelle.
Dietrich nimmt von mir Besitz. Dominiert den Kuss. Lässt mich kaum zu Atem kommen. Mein Blut fließt so schnell in meinen Schwanz, dass mir schwindelig wird. Oder ist es vom Alkohol? Nichts in der Welt würde mich dazu bringen, diesen Kuss zu beenden.
Während all das passiert, ist mir auf seltsame Art und Weise bewusst, dass im Hintergrund zuerst eine Glocke erklingt und dann ertönen Violinen, die seltsam zu flirren scheinen.
Träume ich das? Aber es dauert nur einen Moment, dann erschallen die vertrauten Klänge von „An der schönen blauen Donau“ von Johann Strauss Sohn. Wieso ist diese Melodie so vertraut? Ich habe sie sicher in der Schule das letzte Mal gehört. Und wieso spielen sie so etwas auf einem Sender, der normalerweise Charts spielt? Ist das so ein Österreicher-Ding?
Dietrichs Zunge hört nicht auf, sich im Takt der Musik um meine zu bewegen. Es ist im wahrsten Sinne des Wortes ein Tanz. Formell, erotisch und seltsam zugleich. Aber gut. So gut.
Gierig sauge ich an dem frechen Organ, das sich Zugang zu meinem Mund verschafft hat. Versuche, es in Dietrichs zurückzudrängen, um mit meinem gleich zu folgen. Und auch wenn mein bester Freund das zulässt, ist für keinen Moment unklar, wer hier das Sagen hat.
Es nimmt kein Ende. Gott sein Dank! Alles andere wäre nicht akzeptabel. Ist der Donauwalzer ein langes Stück? Ich habe nicht die geringste Ahnung. Aber ich hoffe es. Ich hoffe es sehr.
Der Kuss dauert an, steigert sich und wird wieder sanfter, passend zu den Klängen des bekannten Stücks. Ich kann nicht genug davon bekommen.
Die Pauken im Hintergrund werden dominanter – ein wilder Wirbel. Dann ein breiter Schlussakkord.
Dietrichs Lippen lösen sich von meinen, als die Moderatoren etwas für mich Unverständliches erzählen. Ich starre verwirrt ins Leere, als bereits ein neues Lied eingespielt wird. Diesmal ist es die Nummer 1 der aktuellen Charts.
„Wo ist der Whiskey?“, ruft Dietrich viel zu laut neben meinem Ohr und springt auf. Ich bin zu betrunken, vom Alkohol und von dem Wahnsinnskuss, um mir auch nur vorzustellen, wie es wäre, jetzt so schnell auf die Beine zu kommen.
Aber in dem Moment steht Dietrich schon wieder vor mir. Mit zwei Flaschen in der Hand und einem triumphierenden Grinsen auf den Lippen.