Buenos Aires, 1980
Mein Schritt stockt. Mein Atem ebenso.
Ein Mann, den ich noch nie in der Tanzschule meines Großvaters gesehen habe, hat gerade den Saal betreten. Er scheint nur ein paar wenige Jahre älter zu sein als meine zarten 18. Schlanker, beinahe schlaksiger Körper. Freudig funkelnde, dunkle Augen leuchten unter Locken, die ihm bis über die Augenbrauen fallen, hervor.
Er ist wunderschön.
Der Gedanke durchzuckt mich unvorbereitet, während der Unbekannte ohne zu zögern weiter auf die Musiker zugeht, die für die herrliche Musik sorgen, zu der die anderen neun Tanzschüler und ich gerade tanzen.
„Ah …“
Der helle Schrei und das Gewicht, das plötzlich an meinen Armen zerrt, holen mich wieder ins Jetzt zurück und erinnern mich daran, was ich eigentlich gerade tue – oder tun sollte –, anstatt fremden Männern hinterherzustarren.
Nein, nein, nein, nein, nein! Martina ist die beste Tänzerin weit und breit. Es ist eine verdammte Ehre, dass sie mich ausgewählt hat, mit ihr zu tanzen. Und ich mache einen solchen Anfängerfehler und lasse mich ablenken. Das darf doch nicht wahr sein!
Tango ist ein wunderbarer Tanz. Auch wenn viele Menschen das heute gar nicht mehr zu schätzen wissen. Schon als Kind saß ich am liebsten auf den Knien meines Nonos, meines Großvaters, und habe mir angehört, wie es in den Goldenen Jahren des Tangos so war. Wie seine kleine Tanzschule jeden Abend zum Brechen voll war. Wie an jeder Straßenecke Musiker saßen und Paare zu den melancholischen Klängen, die sie ihren Instrumenten entlockten, tanzten. Wie die hohe Kunst der Improvisation, die der Tango erfordert, von beinahe jedem Mann und jeder Frau beherrscht wurde. Wie er Nona, meine Oma, kennenlernte, indem er sie einfach zu einem Tanz aufforderte, und wie sie nur damit sein Herz eroberte. Wie sie vom ersten Moment an seine kleinsten Berührungen sofort deuten konnte und die beiden einen Tango auf das Parkett legten, der Vorbeigehende dazu anregte, stehen zu bleiben, zuzuschauen und schließlich zu applaudieren, als die Musik verklang …
Aber wie es scheint, habe ich das Talent meiner Großeltern nicht geerbt. Martina und ich tanzen schon den ganzen Abend miteinander und es fließt immer noch nicht richtig.
Auch vom Glanze vergangener Zeiten ist kaum etwas übrig. Jahrzehnte politischer Instabilität haben dafür gesorgt, dass die Menschen andere Sorgen haben, als sich fürs Tanzen zu begeistern, und seit vor vier Jahren das Militär die Macht an sich gerissen hat, ist alles nur noch schlimmer geworden.
General Jorge Rafael Videla regiert mit eiserner Hand. Aber egal wie viele Polizisten er an jede Ecke stellt, die für Sicherheit sorgen, er kann nicht verhindern, dass viele Betriebe schließen müssen und dass unser Geld jeden Tag weniger wert ist. Heute zahle ich für einen Laib Brot denselben Betrag, den wir vor zwei Jahren noch als Miete für die Tanzschule bezahlt haben. Wie soll das auf Dauer nur weitergehen?
Außerdem verschwinden immer wieder Menschen. Niemand ist sicher. Und wem ich vertrauen kann, weiß ich auch nicht mehr. Einer unserer Musiker, Santiago, der eines Abends laut ausgesprochen hat, dass General Videla das Land zu Grunde richtet, ist am nächsten Abend nicht mehr in die Tanzschule gekommen. Und in den seither vergangenen acht Monaten auch nicht mehr. Aber darüber will ich nicht einmal nachdenken. Wenn nur die Hälfte der Gerüchte von Geheimgefängnissen und Todesflügen stimmt … Gott, wie gesagt, besser ist es, nicht einmal darüber nachzudenken – selbst das erscheint zu gefährlich.
Trotz der unzähligen Gedanken, die durch meinen Kopf rasen, schaffe ich es irgendwie, Martina aufzufangen, bevor sie sich auf einer der ockerfarbenen, gesprungenen Fliesen das Knie aufschlägt.
Puh, gerade noch einmal gut gegangen!
Dennoch steigt mir mehr Hitze ins Gesicht, als ich mich stotternd bei ihr entschuldige.
„Tesoro …“, wischt Martina meine Bedenken mit einem Lachen und einer Handbewegung weg.
Schatz … Mir wird gleichzeitig heiß und kalt. Noch nie hat sie mich mit einem Kosenamen angesprochen. Habe ich vielleicht doch etwas von dem Talent meines Großvaters geerbt?
Herrliche Musik hüllt mich ein, als ich die Tanzschule Augustin de Vales betrete. Ich liebe es hier sofort. Sie ist eine der letzten Tangoschulen Buenos Aires.
Alles ist etwas heruntergekommen, aber ich kann die Größe vergangener Tage noch förmlich riechen. Ein prachtvoller Lüster, in dem nur noch zwei Glühbirnen leuchten, lässt manche Ecken etwas dunkel erscheinen. Aber die Tanzfläche ist hell genug beleuchtet und auch die drei anderen Musiker, die auf etwas wackelig aussehen Holzstühlen sitzen, haben kein Problem, die Notenblätter vor ihnen zu entziffern.
Ich kann es kaum glauben, dass ich heute zum ersten Mal hier bin. Seit sechs Jahren, seit ich 15 Jahre alt war, spiele ich fast ausschließlich Tangomusik.
Es ist ein hartes Leben. Kaum jemand interessiert sich noch für diese Klänge. Aber sie sprechen zu meiner Seele wie sonst nichts. Wiederholt hat mich meine Mutter angefleht, doch etwas anderes – Besseres – mit meinem Leben anzufangen, aber ich kann nicht. Mein Verlangen, diese Melodien in die Welt zu entlassen, ist einfach zu groß.
Der 4/8-Takt des Stückes in h-Moll, das meine Musikerkollegen gerade spielen, führt dazu, dass sich die kleinen Haare auf meinen Unterarmen zu einer Gänsehaut aufrichten. Diese Musik ist einfach Nahrung für die Seele.
Ja, hier bin ich richtig.
Und da ist auch schon der Grund, warum ich heute hier bin. In einer Ecke steht ein verwaister schwarzer Flügel. Er wirkt traurig. Zur Seite geschoben. Der früher sicher einmal glänzend schwarze Lack wirkt matt und ist an mehreren Stellen abgeschlagen. Trotzdem habe ich noch nie etwas Schöneres gesehen.
Meist spiele ich das Bandoneon, eine Art Akkordeon, das klassische Klangelement des Tangos. Aber auch Geige und Kontrabass liegen mir. Solange es um meine liebste Musik geht, scheint mir die Beherrschung der Instrumente nur so zuzufallen. Aber am liebsten ist mir das Klavier. Es war meine erste große Liebe und wird es wohl auch immer bleiben.
Doch gerade in dem Moment, als ich meine Finger über den vernachlässigten Flügel streichen lassen will, lässt mich ein überraschter Aufschrei herumfahren. Zwei Tanzende von den lediglich fünf Paaren, die sich an diesem verregneten Sonntagabend hier eingefunden haben, sind gestolpert. Zum Glück schaffen sie es irgendwie, sich aufzufangen, bevor sie auf den Fliesenboden donnern.
Als sie sich wieder aufrichten, schallt helles, fröhliches Frauenlachen durch den Raum. Doch dann hebt der junge Mann den Kopf. Leicht gerötete Wangen. Schwarze Augen, die mir direkt in die Seele zu schauen scheinen. Eine etwas zu große, spitze Nase. Leicht geöffnete, volle Lippen.
Scheiße!
„Tesoro …“, klingt die lachende Stimme der hübschen dunkelhaarigen Frau an mein Ohr.
Schatz …
Mein Herz sinkt. Aber wahrscheinlich ist es gut, dass zwischen dem ganz in schwarz gekleideten jungen Mann und der attraktiven Frau mehr ist als nur eine Verbundenheit im Tanze. Egal wie enttäuscht ich darüber auch sein mag, es ist besser so.
Das, was ich möchte, ist … gefährlich. Sehr gefährlich. Ich muss so verdammt vorsichtig sein! Täglich verschwinden Menschen. Und ihre Verbrechen sind meist geringer als das, was ich mit dem unwiderstehlichen Unbekannten am liebsten machen würde.
Au!
Überrascht schnellt mein Blick zu meiner Hand zurück. Selbst als ich die Szene vor mir beobachtet habe, haben meine Finger nicht aufgehört, über den wunderbaren Flügel zu streichen. An einer Stelle, an der der Lack abgesprungen ist, habe ich mir einen Splitter eingefangen.
Ich nehme den Finger in den Mund und sauge daran, um ihn wieder loszuwerden. Dabei drehe ich der Tanzfläche bewusst den Rücken zu und danke den Heiligen, dass sie mich wieder auf den rechten Pfad gebracht haben.
Der Regen donnert ungebremst auf das kleine Vordach der Tanzschule. Ich ziehe noch ein letztes Mal an meiner Zigarette, bevor ich den Stummel auf den nassen Boden werfe.
Der heutige Abend war eine Achterbahnfahrt der Gefühle. Einerseits ist da Martina, die Schöne, die Unerreichbare, der Schwarm der ganzen Tanzschule, seit sie vor etwa einem Jahr aufgetaucht ist. Jeder hat ihr hinterhergeschmachtet und heute hat sie ausgerechnet mit mir den ganzen Abend lang getanzt – und mich Tesoro genannt. Mir steigt immer noch die Hitze in die Wangen, wenn ich daran denke.
Und wahrscheinlich wäre es mein Highlight des Jahres gewesen, wenn da nicht dieser neue Musiker aufgetaucht wäre. Selbst hier draußen kann ich die bezaubernden Klänge noch hören, die er dem Flügel entlockt. Sie setzen sich direkt hinter meinem Brustbein fest und erwecken etwas in mir.
Zitternd führe ich meine Hand wieder zum Mund. Aber sie ist leer. Die eine Zigarette pro Tag, die ich mir leiste, ist aufgeraucht. Stattdessen fahre ich mir durch die streng zurückgekämmten Haare.
Warum geht er mir nicht mehr aus dem Kopf?
Er ist doch nur irgendein Musiker, der den offenen Abend in Großvaters Tanzschule ausnutzt. Jemand, den ich vielleicht nie mehr wiedersehen werde. Mein Herz zieht sich bei dem Gedanken schmerzhaft zusammen.
Was soll das?! Ich weiß ja nicht einmal seinen Namen.
Die Tür hinter mir öffnet sich. Als ich einen Schritt zur Seite trete, um die Person, die sie geöffnet hat, herauszulassen, ist es, als ob sich meine Gedanken plötzlich in Fleisch und Blut manifestiert hätten. Er steht vor mir.
Ein freudiges Lächeln schleicht sich auf seine Züge, als er mich sieht: „Ah, da bist du ja. Du musst Ernesto sein, das Wunderkind und der Enkel von Augustin. Ich bin übrigens Silvio.“
Mein Bauch beginnt aufgeregt zu kribbeln. Silvio … der Name passt. Seine Stimme – wie flüssiges Silber – bringt wie seine Musik mein Innerstes zum Schwingen. Da wird mir der Inhalt seines Satzes erst bewusst. Wunderkind? Dass ich nicht lache. Außerdem zieht sich beim Gedanken daran, dass mich dieser attraktive Mann als Kind sehen könnte, etwas unangenehm in mir zusammen.
„Ich bin 18“, sage ich defensiv. „Wohl kaum ein Wunderkind.“
„Aber definitiv jemand, dem das Tangotanzen in die Wiege gelegt wurde.“
Silvios Augen strahlen, als er diesen Satz sagt. Aber da ist auch etwas in seinem Blick, das ich nicht deuten kann. Es raubt mir beinahe den Atem.
Wir starren uns an.
Die Musik, von der ich gar nicht bemerkt hatte, dass sie kurz pausiert hat, erklingt wieder. Ohne die Töne, die Silvio unserem alten Flügel entlockt, ist sie zwar auch schön, aber es ist, als würde der rote Faden fehlen. Nein, das ist falsch. Es ist wie ein Haus ohne Schnörkel. Die Tür, die Fenster – alles ist da. Der Architekt und die Bauarbeiter haben sich viel Mühe gegeben. Aber es existiert nur das bare Minimum. Es fehlt echte Tiefe, die Schönheit, das Herz … die Liebe.
Ein seltsames Geräusch ähnlich eines Wimmerns kommt über meine Lippen. Peinlich berührt schließe ich die Augen und sende ein Stoßgebet an die Mutter Gottes. Bitte, lass Silvio das nicht gehört haben!
Als ich sie wieder öffne, sieht mich der fremde Mann mit einem seltsamen Ausdruck an – als hätte er aufgehört zu atmen, als sich meine Stimme selbstständig gemacht hat. Dann streckt er seine rechte Hand vor.
„Tanz mit mir!“