KAPITEL 1

Ein entzückendes Wesen

Gabriel

Langsam gehe ich über die breite Planke auf das große Kreuzfahrtschiff Fascinata zu. Die Sonne brennt mit deutlicher Stärke auf mich herab, während ich ihr mein Gesicht entgegenstrecke und die Wärme genieße. Die Saison war lang und hart. Ganz wie erwartet.

Ein Lächeln breitet sich auf meinen Lippen aus. Wir waren so erfolgreich! Das Lächeln wird zu einem breiten Grinsen und droht, auf meinem Gesicht nicht genug Platz zu haben. 

Ich kann nicht widerstehen, die vergangenen Monate noch einmal vor meinem inneren Auge vorbeiziehen zu lassen. Wir haben bei den olympischen Spielen in China die Silbermedaille geholt! Das hat niemand erwartet. Terengien ist zwar eine ausgesprochene Eishockeynation, aber als ein so kleines Land mit kaum fünf Millionen Einwohnern ist es oft schwer, in internationalen Wettbewerben zu bestehen.

Aber wir haben es geschafft. Mehr sogar! Noch einmal denke ich an das letzte Spiel zurück. War ich enttäuscht, dass es nicht die Goldmedaille wurde? Natürlich! Ich glaube, jeder Sportler wünscht sich Gold. Aber es war schon Wahnsinn, dass wir es überhaupt ins Finale geschafft haben. Das hat niemand von uns erwartet. Und ganz am Anfang sah es auch überhaupt nicht danach aus. Das Team wollte und wollte nicht zusammenkommen. Wir haben keinen Flow gefunden. Nichts hat so funktioniert, wie wir es uns vorgestellt hatten. Aber dann …

Ich weiß nicht genau, was passiert ist, aber irgendwann hat es zwischen Daniel und Nico geklickt. Von dem Moment an war es wie reinste Magie. Beinahe so, als könnte jetzt gar nichts mehr schief gehen. Wir flogen nur so übers Eis. Pucks fanden Schläger aus den unmöglichsten Positionen. Die anderen Spieler waren immer genau dort, wo ich sie am meisten brauchte. Wie gesagt: reinste Magie.

Aber das blieb nicht der einzige Triumph. Die ersten Tage nach meiner Rückkehr aus China waren brutal.

Es schüttelt mich noch jetzt bei dem Gedanken an den massiven Jetlag, mit dem ich in Schweden gelandet bin. Die ersten Tage hat sich mein Gehirn wie in Watte eingepackt gefühlt und ich habe auf dem Eis Fehler gemacht, über die nicht nur die Trainer die Köpfe geschüttelt haben. Aber dann … dann habe ich mein Team, den Frölunda HC aus Göteborg, zum schwedischen Meistertitel geführt! Es war ein unglaublicher Sieg. Es ist mehr als zehn Jahre her, dass mein Club den Titel zum letzten Mal geholt hat. Und dass ich sie jetzt als Kapitän wieder dorthin gebracht habe, …

Ich glaube, ich werde nie ein schöneres Gefühl erleben, als das, wie ich mit dem hoch über meinem Kopf erhobenen, schweren Pokal eine Ehrenrunde über das Eis gezogen habe. Meine Kollegen reden immer wieder davon, dass ihr Hochzeitstag der schönste Tag ihres Lebens war, aber ganz ehrlich, ich glaube nicht, dass das diesem Erfolg, diesem Triumph, diesem unglaublichen Gefühl, jemals auch nur annähernd das Wasser reichen kann.

Und jetzt? Jetzt habe ich endlich Urlaub. Ich kann es kaum glauben, dass ich endlich hier bin. Die längste Saison aller Zeiten ist vorbei und in den nächsten drei Wochen wird es für mich nichts anderes geben als Entspannung. Drei Wochen auf diesem herrlichen Kreuzfahrtschiff. Drei Wochen voll von Margaritas, Sonne, ein bisschen Schwimmen und sonst nichts. Keine Verpflichtungen, keine Termine, keine Trainer oder Teamkollegen, die irgendetwas von mir wollen. Das reinste Paradies!

Eine kurze Schlange hat sich vor dem ganz in weiß gekleideten Steward gebildet, der die Bordkarten kontrolliert. Das gibt mir die Zeit, noch einmal an das Telefongespräch mit meiner Schwester vor so vielen Wochen zurückzudenken. Ungläubig schüttle ich den Kopf. Sie hat sich dieses Mal wirklich selbst übertroffen. Wie versprochen musste ich mich um nichts kümmern. Sie hat den ganzen Urlaub organisiert. Bis ins letzte Detail. Sogar das Taxi, das mich am Flughafen abgeholt und hierher zum Hafen gebracht hat, hat sie für mich bestellt.

Okay, ich gebe es zu: Ganz vertraut habe ich Susan dann doch nicht. Ich schäme mich beinahe, zu gestehen, dass ich meine Kreditkartenabrechnungen der letzten Monate sehr genau kontrolliert habe. Aber Susan hat sie wirklich nur für die Kosten des Urlaubs genutzt. 

Eigentlich sollte mich das nicht wundern. Susan jobbt neben ihrem Studium als Kellnerin, obwohl ich ihr bereits mehrfach angeboten habe, sie zu unterstützen. Doch sie weigert sich strickt, Geld von mir anzunehmen. Ich sollte wirklich damit aufhören, unsere alte Geschwisterrivalität in unsere jetzige Beziehung mit hineinspielen zu lassen, wo wir doch beide erwachsen sind. Aber alte Gewohnheiten sterben schwer …

Eine groß gewachsene, blonde Frau, die gerade alleine am Stewart vorbeischreitet, sticht mir ins Auge und lässt alle Gedanken an meine Schwester wie Rauch verpuffen. Ist sie meine Mysterywoman, meine Kabinenpartnerin? Ihre langen, schlanken Beine werden von ihrem kurzen Sommerkleid, an dem der Wind fröhlich zieht, kaum verdeckt. Mhm, genau mein Typ!

Susan war über das „entzückende Wesen“, das sie für mich als Reisepartnerin auserkoren hat, erstaunlich schweigsam.

Der Steward nickt freundlich, als er mir meine Fahrkarte zurückgibt und mich die Fascinata betreten lässt. Langsam lasse ich meinen Blick in die Runde schweifen. Es sind erstaunlich viele junge Menschen hier. Als ich einmal meinen Eishockeykollegen gegenüber erwähnt hatte, dass meine Schwester für uns eine Kreuzfahrt für den Sommer gebucht hat, ist Dietrich, mein linker Flügel, in schallendes Gelächter ausgebrochen und hat gemeint: Das ist doch nur etwas für Senioren!

Aber danach sieht es im Moment gar nicht aus. Ich habe nicht übel Lust, mein Handy herauszunehmen, ein Foto zu schießen und es ihm zu schicken. Mit einem Smiley, der die Zunge herausstreckt, natürlich. Der würde Augen machen, wenn er die Blonde sehen würde … Und nicht nur sie. Auf den ersten Blick würde ich schätzen, dass der Altersschnitt unter 40 liegen muss. Ich weiß ja nicht, welche Kreuzfahrten Dietrich üblicherweise macht, aber dieses Schiff ist definitiv keine getarnte geriatrische Station.

Langsam spaziere ich auf dem Hauptdeck entlang und lasse meinen Blick über die Köpfe der Menge schweifen. Kellner in weißen Jacken und mit Tabletts voller bunter Cocktails mit noch bunteren Schirmchen darin laufen hin und her und verteilen ihre kostbare Fracht mit einem offenen Lächeln. Boden und Wände des Hauptdecks sind weiß und wirken nicht nur sauber, sondern als wären sie auf Hochglanz poliert. Schimmert ganz hinten das erfrischende Blau eines Pools? Ich bin mir nicht ganz sicher, mache mich aber doch in die Richtung auf. Wahrscheinlich sollte ich besser zu meiner Kabine gehen. Aber das herrliche Wetter lädt geradezu dazu ein, an Deck zu bleiben. Ich habe eben erst einen langen Winter in Eishallen verbracht. Da genieße ich die Sonnenstrahlen jetzt umso mehr.

Ein vertrautes Lachen dringt ein mein Ohr. Nur wenige Schritte von mir entfernt steht Susan. Sie wirft gerade den Kopf in den Nacken und lacht herzhaft über etwas, das einer ihrer beiden Begleiter gesagt hat. Einer ihrer beiden männlichen Begleiter.

Magnus

Amüsiert beobachte ich Susan. Wenn es auch nur einen Funken in mir geben würde, der an Frauen interessiert wäre, dann wäre sie die ideale Partnerin für mich. Noch einmal lasse meinen Blick über die Karte streifen, die ihr Freund Klaus ihr gerade zugesteckt hat.

Auf der Vorderseite ist eine DNA-Spirale abgebildet. Auf zwei der Basen, die die beiden DNA-Stränge miteinander verbinden, sind Herzchen gezeichnet und neben dem Bild steht: Wir beide ergeben ein großartiges Paar. Basenpaar. Ich kann ein Auflachen nicht unterdrücken.

Auf die Rückseite der sonst ganz in Weiß gehaltenen Postkarte hat Klaus in seiner kaum leserlichen Handschrift gekritzelt: „Ich freu mich schon auf einen großartigen Urlaub mit dir!“ Und dann hat er daneben sogar noch ein Herz gemalt. Ein anatomisch korrektes Herz. Die beiden sind der Hammer! 

Susan habe ich vor gut zwei Jahren bei einer Übung in Organischer Chemie auf der Uni Terenberg kennengelernt. Nachdem wir beide das Pech hatten, in einer Gruppe zu landen, in der wir niemanden kannten, wurden wir Laborpartner. Und es hat sofort gefunkt. Nein, nicht auf diese Art und Weise. Innerhalb von wenigen Minuten war mir klar, dass die zarte Frau mit den langen dunklen Haaren zu einer wichtigen Person in meinen Leben werden würde. So etwas hatte ich noch nie erlebt, aber es hat sich als die absolute Wahrheit herausgestellt. Denn ab der ersten Stunde in Organischer Chemie waren wir unzertrennlich.

Vor gut einem Jahr hat Susan mich dann auf eine Medizinerparty geschleppt, die im Hof zwischen der Anatomie und der Physiologie gefeiert wurde. Die Beats waren so laut, dass ich der Meinung war, die Scheiben der altehrwürdigen Backsteingebäude erzittern zu sehen. Mir taten die Studenten leid, die an diesem Abend in den Räumen der Physiologie die Kurse vom Uni-Sprachen-Zentrum besuchten. Aber egal. Niemand hat sich beschwert.

Auf dieser Party haben wir dann Klaus kennengelernt. Damals war er Medizinstudent im fünften Semester. Und wieder hat es gefunkt. Aber diesmal auf die vertraute Art und Weise. Zwischen Susan und Klaus. Die beiden könnten glücklicher nicht sein. Ich freue mich für meine beste Freundin. Auch wenn ich zugeben muss, dass ich manchmal auf das, was die beiden haben, etwas eifersüchtig bin. Ich habe schon viel zu viele Frösche geküsst und nie kam dabei mein Prinz heraus.

Während Susan Klaus um den Hals fällt und ihn leidenschaftlich küsst, dränge ich die trüben Gedanken zur Seite. Es ist Sommer! Wir sind im Urlaub! Ich kann es kaum fassen! 18 Tage auf einem Kreuzfahrtschiff! Susans Bruder war so großzügig, uns alle einzuladen. Ich habe ihn nie getroffen. Susan erzählt nicht besonders viel über ihn. Nur, dass er irgendeinem hoch bezahlten Job im Ausland nachgeht.

Ich bin schon etwas nervös, wenn ich daran denke, dass ich mir mit diesem Fremden für die nächsten Wochen eine Kabine teilen soll. Und der erste Blick hat mir bewiesen, dass diese nicht gerade riesig sind. Falls wir uns also nicht verstehen sollten, gibt es keine Möglichkeit, dass wir uns aus dem Weg gehen könnten. Aber wenigstens hat die Kabine zwei Betten. Eine Sorge weniger.

„Hände weg von meiner Schwester“, das tiefe Grollen einer männlichen Stimme lässt mich herumfahren. 

Klaus erstarrt, während Susan nach einem Moment überraschter Stille schon wieder in schallendes Gelächter ausbricht. Sie gibt ihrem Freund noch einen neckischen Kuss auf die Wange, bevor sie dem großen Mann, der zu uns herangetreten ist, in die Arme springt. Und das meine ich nicht im übertragenen Sinne. Nein, sie wirbelt herum, setzt zum Sprung an und wird so sicher von dem Neuankömmling aufgefangen, dass es keinen Zweifel daran geben kann, dass die beiden dieses Kunststück schon unzählige Male aufgeführt haben.

Okay, vielleicht wird es ja doch nicht so schlimm werden, sich mit diesem Mann die nächsten Wochen ein Zimmer zu teilen. Wenn der erste Eindruck nicht trügt, hat er einen ähnlich schrägen Humor wie seine Schwester.

Zum ersten Mal lasse ich meinen Blick über den Mann vor mir streichen und in meiner Leiste zieht sich etwas freudig zusammen. Verdammt! Der passt so richtig in mein Beuteschema. Muskulöse Arme sprengen beinahe die Ärmel des schwarzen, eng anliegenden T-Shirts und verlockende Tätowierungen lugen hervor. Die ebenfalls schwarze, kurze Sporthose kann nicht verstecken, dass der Rest des Körpers mindestens ebenso gut gebaut ist. Diese Oberschenkel grenzen ja an Baumstämme!

Ich lecke mir freudig über die Lippen. Nachdem ich von dem Mann bis heute nur wusste, dass er einen gut bezahlten Job in Ausland hat, bin ich davon ausgegangen, dass er irgendetwas mit Finanzen macht oder einen ähnlich faden Bürojob hat. Aber das kann ich mir beim Anblick dieses Mannes nicht vorstellen.

Hat Susan mit irgendeinem Wort erwähnt, ob ihr Bruder auf Männer steht? Ich kann mich nicht daran erinnern. Aber ich kann mich im Moment nicht einmal an meinen eigenen Namen erinnern … 

Da lässt sich Susan wieder auf den Boden herabgleiten. Als sie einen halben Schritt zurücktritt, kann ich zum ersten Mal das Gesicht betrachten, das zu dem wundervollen Körper gehört. Eine verspiegelte Sonnenbrille dominiert alles, bis er sie auf die kurz rasierten Haare auf seinem Kopf schiebt.

Mir bleibt der Atem weg, als ich registriere, wem ich da gegenüberstehe: Gabriel Verieux, einem der Eishockeyhelden unserer Nation.

Ich werde Susan umbringen!

Gabriel

Ich würde es nie laut zugeben, aber es tut so gut, meine kleine Schwester endlich wieder einmal in meinen Armen zu halten. 

So sehr ich meinen Job liebe, so sehr ich glücklich darüber bin, dass ich meinen Traum verwirklichen konnte und professionell Eishockey spielen darf, so sehr fehlt mir meine Familie in diesen langen, kalten Monaten der Eishockeysaison. Auch eine Sache, die ich nie laut zugeben würde. Aber ich drücke Susan für einen Moment noch fester an mich. Gott sei Dank lässt sie das ohne Kommentar über sich ergehen.

Als sie dann aus meinen Armen wieder auf den festen Boden zurückspringt – naja, so fest, wie der Boden eines Schiffes sein mag –, schaue ich mir zum ersten Mal die beiden Männer genauer an, bei denen meine Schwester stand, als ich zu der Gruppe getreten bin.

Da ist der Mann, den sie vorher so stürmisch geküsst hat. Groß gewachsen, leicht schlaksig, ohrenlange mittelbraune Haare. Etwas vorsichtig, aber bestimmt, legt er jetzt seinen Arm auf Susans Schultern. Das muss Klaus sein, ihr neuer Freund. 

Okay, neu ist gut. Die beiden sind schon eine ganze Weile zusammen. Aber letzten Sommer war es noch zu frisch, da wollte Susan ihn mir noch nicht vorstellen, und während der letzten Wahnsinnssaison habe ich es kein einziges Mal nach Hause geschafft. 

Nicht einmal an Weihnachten. 

Okay, ich war natürlich zum vorbereitenden Trainingslager auf die Olympischen Winterspiele für die terengische Nationalmannschaft dort. Aber das zählt nicht, denn da hatte ich nur Zeit für einen gehetzten Kurzbesuch bei meinen Eltern auf einen Kaffee. Susan habe ich gar nicht gesehen. Sie wollte eigentlich zum Spiel, das wir gegen die Terenberg Capitals, der Eishockeymannschaft unserer Hauptstadt, gespielt haben, kommen. Aber sie lag genau da mit Grippe im Bett.

„Hey Mann! Freut mich, dich kennenzulernen“, sage ich und strecke ihm meine Hand entgegen. 

„Klaus.“

Beinahe unsicher nimmt Susans Partner meine Hand. Sein Name klingt eher wie eine Frage als eine Aussage. Ich werfe meiner Schwester einen fragenden Blick zu, aber diese beobachtet gerade eine Möwe, die laut kreischend über uns hinwegzieht. Tut sie absichtlich so, als würde sie das seltsame Verhalten ihres Freundes nicht bemerken? Warum?

„Gabriel“, antworte ich mit fester Stimme.

Klaus’ Lippen bewegen sich tonlos. Aber auch wenn ich des Lippenlesens normalerweise nicht mächtig bin, gewisse Wörter kann jeder erkennen. „Danke“ zum Beispiel. Oder „Scheiße“. Oder wie jeder, der einmal gekellnert hat: „Zahlen, bitte!“ Aber die beiden Wörter, die seine Lippen formen, sind ein paar ganz andere: „Gabriel Verieux“. Mein ganzer Name. Auch das kann ich von den Lippen eines anderen Menschen ablesen.

Warum wirkt er so überrascht? Ja, ich habe ihn noch nie getroffen, aber er war doch schon bei unseren Eltern zu Hause. Okay, Mutter hat schon vor Jahren alle Hockeytrophäen und weitere Paraphernalien in mein Zimmer verbannt und die Chance, dass Susan und Klaus das betreten haben, ist gering. Aber hat nie jemand erwähnt, was ich beruflich mache?

Okay, zugegeben, das ist gar nicht so abwegig. Unsere Mutter ist Professorin für Gegenwartsliteratur und unser Vater arbeitet als Biochemiker für ein Pharmaunternehmen. Sport spielt im Leben unserer Eltern überhaupt keine Rolle. 

Natürlich sind sie stolz auf mich und haben mich immer unterstützt. Aber ich kann mir gut vorstellen, dass sie bei den paar Besuchen, die Klaus bisher bei ihnen absolviert hat, andere Themen hatten. Vor allem, weil er Mediziner ist. Wahrscheinlich hat mein Vater ihn in Gespräche rund um sein Forschungsgebiet im Bereich Immuntherapie verwickelt. Und wenn er davon spricht, gibt es rund herum nichts anderes mehr.

Ganz ehrlich: Mit Olympia und allem in diesem Jahr … Hat Klaus nie den Bruder Gabriel seiner Freundin Susan Verieux mit dem Eishockeyspieler Gabriel Verieux in Verbindung gebracht? Ja, Verieux ist ein recht häufiger Name in Terengien. Aber trotzdem!

Bevor ich allerdings eine Entscheidung treffen kann, was ich jetzt tun soll, mischt sich meine bisher verdächtig ruhige Schwester in das Gespräch ein: „Und das ist dann dein Mitbewohner für diese wundervolle Reise“, sagt sie und strahlt mich unschuldig an.

Erwartungsvoll blicke ich auf. Aber auch wenn sich gefühlt Hunderte Menschen um uns herum tummeln, ist niemand Neues zu unserer kleinen Gruppe hinzugetreten. Nein, da sind nach wie vor nur Susan, Klaus, ein weiterer junger Mann und ich.

„Magnus“, die Stimme ist erstaunlich tief und etwas rau.

Ich wende mich dem jungen Mann zu. Als Erstes stechen mir sein knallrotes T-Shirt und die kurze Hose mit den großen Blumen in verschiedenen Blau-, Grün- und Orangetönen ins Auge. Er ist fast so groß wie ich und gertenschlank. Aber während Klaus schlaksig und beinahe ungelenk wirkt, hat Magnus die kompakte Form eines Läufers. Halblange blonde Haare hängen ihm lässig ins Gesicht. Die Augen sind unter einer – im Kontrast zum Rest seines Outfits – erstaunlich schlichten Sonnenbrille mit durchsichtigem Gestell versteckt. Seine vollen Lippen, die so glänzen, als ob er Lipgloss benutzt hätte, haben sich zu einem schiefen Lächeln verzogen.

Dann streckt er mir seine große Hand entgegen. Reflexhaft schüttle ich sie, bevor mir die Worte meiner Schwester so richtig klar werden.

Mitbewohner? Was ist mit dem entzückenden Wesen passiert, das Susan mir versprochen hat?

Doch bevor ich irgendetwas sagen kann, beginnt der große Mann, dessen Hand noch immer meine schüttelt, zu kichern. Ja, zu kichern. Es klingt glockenhell und tief zugleich. So als würden in einem Kirchturm sowohl die kleinsten als auch die größten Glocken gemeinsam läuten.

Ich stehe verdattert da, während er seine große Hand aus meiner löst und sie benutzt, um meine Schwester spielerisch zu schubsen.

„Du bist in verdammt großen Schwierigkeiten, Fräulein!“, Magnus’ Ton klingt streng. Aber als er seinen Kopf zur Seite dreht, kann ich ein freches Funkeln in seinen Augen, deren Farbe ich noch immer nicht kenne, hinter den braunen Gläsern erahnen. „Wie lange sind wir jetzt Freunde?“

Die Hand, die vorher in meiner war und dann vor wenigen Sekunden Susan geschupst hat, stemmt er bei diesem Satz in seine Hüfte. Magnus’ Becken kippt dabei leicht zur Seite und sein Kopf legt sich schief. Er sieht aus wie ein personifiziertes Fragezeichen. Ein verdammt verärgertes Fragezeichen.

Doch bevor meine Schwester auch nur eine Chance hat, auf seine Frage zu antworten, spricht Magnus schon weiter: „Wie konntest du mir all die Jahre verschweigen, dass dein Bruder der berühmte Gabriel Verieux ist?“

Scheiße!

Panisch blicke ich mich um. Aber glücklicherweise scheint niemand unserer kleinen Truppe Aufmerksamkeit zu schenken. 

Da lässt ein lautes Geräusch meinen Kopf schon wieder herumschnellen. Meine Schwester ist wieder einmal in schallendes Gelächter ausgebrochen. Klaus, Magnus und ich tauschen überraschte Blicke aus, während Susan offensichtlich Probleme hat, sich vor lauter Lachen auf den Beinen zu halten. Mittlerweile lehnt sie an der weißen Wand hinter sich.

„Eure Gesichter …“, presst sie zwischen zwei Lachsalven hervor.

Wussten Susans Lebensgefährte und ihr bester Freund vor fünf Minuten ernsthaft noch nicht, wer ich bin? Im nächsten Moment verzieht sich mein Gesicht mitleidig. Ich hatte vergessen, wie oft Susan in der Schule von Mitschülern ausgenutzt wurde, weil diese irgendwie versuchten, an mich heranzukommen. Selbst die Eltern ihres letzten Ex-Freundes waren sich nicht zu schade dafür, Susan um Eishockeytickets anzubetteln. Ich kann sie irgendwie verstehen …

Aber das ist nicht die wichtigste Erkenntnis der letzten paar Minuten. Diese lautet: Ich soll mir mit Magnus ein Zimmer teilen?! Ich dachte, eine schnuckelige Studienkollegin von Susan würde mir die Reise versüßen.

„Entschuldigt uns kurz“, murmle ich den beiden anderen Männern zu. Dann packe ich Susan am Oberarm und ziehe sie etwas weiter in Richtung Heck und außer Hörweite unserer beiden Mitreisenden.

„Was soll das?“, knurre ich meine Schwester an, sobald ich es für sicher erachte.

Susans Augen weiten sich unschuldig. Darin war sie immer schon gut. Zu dumm, dass ihr Rehblick bei mir ganz und gar nicht wirkt. 

Ich kneife meine Augen zu Schlitzen zusammen.

Leider kennt auch Susan mich viel zu gut und lässt sich davon nicht im Geringsten einschüchtern.

„Ich habe keine Ahnung, was du meinst …“, gibt sie die unschuldige Nummer nicht so schnell auf.

„Susan!“

Sie schaut mich noch einen Moment lang mit ihren großen Augen an. Aber dann muss sie bemerken, dass es mir ernst ist, denn nur Sekunden später lässt sie den unschuldigen Ausdruck wie eine Maske fallen. 

„Ich hatte keine Lust, mich schon wieder tagelang – wochenlang – mit einer deiner blöden Tussis abgeben zu müssen. Die Letzte, die du angeschleppt hast, war ja kaum in der Lage, einen geraden Satz auszusprechen. Ich wollte endlich einmal mit dir Zeit verbringen und echte Gespräche führen können“, erklärt sie mit ernster Miene. Ich kann mich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal so offen mit mir gesprochen hat.

Frustriert fahre ich mir mit der Hand übers Gesicht. Susans Einschätzung meiner letzten Freundin gegenüber ist nicht komplett fair, aber ganz unrecht hat sie auch nicht.

„Warum hast du mir das nicht vorher gesagt?“, versuche ich, der Sache auf den Grund zu gehen. „Es hätten ja auch nur wir zwei oder wir zwei plus Klaus fahren können.“

Susan zuckt mit den Schultern. Aber da ist noch etwas. Etwas, dass sie mir verschweigt. So ehrlich sie gerade noch war, so hart ist jetzt der Ausdruck in ihren Augen. Und wenn ich in unserer Kindheit eines gelernt habe, dann ist es, dass jetzt nichts mehr aus ihr herauszubringen ist.

Also versuche ich eine andere Masche.

„Aber mein entzückendes Wesen …“, jammere ich gespielt und versuche, sie so aus der Reserve zu locken.

Susans Blick wird wieder etwas weicher und ein verschmitztes Funkeln ist zu sehen.

O-oh.

„Sag jetzt nicht, dass Magnus nicht entzückend ist …“

Bevor ich es verhindern kann, ist mein Blick schon zu den beiden jungen Männern hinübergewandert, die, seit ich Susan von ihnen weggezogen habe, aufgeregt miteinander flüstern. 

Ganz unrecht hat sie nicht, schießt es mir da plötzlich durch den Kopf.

Huh! Wo kam denn der Gedanke auf einmal her?

Susan entgeht mein innerer Monolog nicht. Sie lacht wieder einmal ihr lautes Lachen, das ihren ganzen Körper einnimmt. Dann ist sie diejenige, die mich am Arm packt und wieder zurück zu den anderen zieht.

„Und vielleicht überrascht er dich noch“, murmelt sie noch in meine Richtung.

Wie bitte? Was meint sie damit?

Doch bevor ich ihren Satz hinterfragen kann, sind wir schon bei den anderen. Susan nimmt Klaus an die Hand und zieht ihn in Richtung einer Treppe, die wohl zu ihrer Kabine führt. 

„Wir treffen uns in exakt zwei Stunden im großen Ballsaal zur ersten Tangostunde“, ruft sie noch fröhlich.

Klaus, Magnus und ich werfen uns überraschte Blicke zu.

Hat sie gerade „Tangostunde“ gesagt?

Susan! Was hast du getan?

Lust auf mehr?

Hier geht es zum Buch