Kapitel 1

Familienbande

Elmar

Vor Kichern spritzt mir fast der Wein aus dem Mund, den ich gerade trinken wollte. Schnell werfe ich Ben einen halb verzweifelten Blick zu, bevor ich mich zu meinem Jean umwende und ihm zur Beruhigung eine Hand auf die Schulter lege. Zum Glück ziert die Gesichtszüge meiner besseren Hälfte ein ebenfalls dezidiert amüsierter Ausdruck.

Noch einmal gehen mir Bens Worte durch den Kopf: „Meine Freundin Amy, ihr wisst schon, die Krankenschwester, war heute ganz traurig, weil sie von einem der Ärzte auf ihrer Station angebrüllt wurde.“

Jean, der ja selbst Arzt ist und dieses Machtgehabe zwischen Ärzten und Schwestern absolut nicht ausstehen kann, wollte nach Details fragen, als mein ältester Bruder einfach weitersprach: „Er schrie, dass er es ihr nun zum letzten Mal sagen würde: Wenn sie einen Totenschein ausfüllt, dann soll sie unter Todesursache den Namen der Krankheit eintragen und nicht den des behandelnden Arztes!“

Jetzt muss ich herzlich lachen. Mit dieser Wendung hatte ich nicht gerechnet. Wobei … Mein Bruder liebt es, andere auf die Schippe zu nehmen. Warum sollte Jean eine Ausnahme sein?

Ich will Ben gerade ein paar gezielte Worte entgegenschleudern, als eine andere Stimme durch den viel zu kleinen Raum dröhnt: „Raus hier, ihr Schwuchteln!“

Plötzlich ist es still. Die Welt scheint für einen Moment die Luft anzuhalten, während die hässlichen Worte von den Wänden widerhallen. Wie von selbst gleitet meine Hand von Jeans Schulter. Mein Herz setzt kurz aus und meine Kehle schnürt sich schmerzhaft zusammen, sodass ich keine Luft mehr bekomme.

Ich habe einen Kardinalfehler gemacht. Für einen Moment hatte ich vergessen, wo ich bin. Wo wir sind. Jean und ich. 

Wir kennen uns jetzt seit zwei Jahren und auch wenn ich etwas gebraucht habe, bis ich zu uns als Paar stehen konnte, sind wir jetzt seit fast einem Jahr verlobt. Trotzdem war eine Intervention meiner wunderbaren Geschwister nötig, damit Jean seit kurz vor Weihnachten mit zum sonntäglichen Essen bei meinen Eltern kommen darf.

„Raus!“, schallt ein weiterer Ruf meines Vaters aggressiv durch das sonst so gemütliche Wohnzimmer. Ich spüre ihn körperlich. Es ist, als hätte er mich geschlagen. Tränen sammeln sich in meinen Augen, aber ich habe genug Verstand in meinem Kopf, diese nicht fallenzulassen. Es wäre nicht auszudenken, was mein Vater dazu zu sagen hätte.

Was ist passiert? Es lief doch alles ganz okay. Etwas steif vielleicht. Und auch wenn mein Vater sich geweigert hat, Jean die Hand zu geben oder ihn anzusehen, schien das meinen Mann nicht besonders zu stören. Zumindest wurde er am Tisch toleriert. Wurden wir toleriert.

Aber dann haben Bens blöde Sprüche dafür gesorgt, dass ich für einen Moment die Mauern habe fallen lassen, die ich üblicherweise um mich herum aufbaue, wenn meine Eltern in der Nähe sind. Ich war ich. Ganz ich. Und ich liebe es, Jean nahe zu sein, ihn zu berühren. Es ist ganz natürlich für mich, ist mir in Fleisch und Blut übergegangen.

„Verlasst sofort meine Wohnung!“

Wieder zucke ich wie unter einem Peitschenhieb zusammen.

Aber die hasserfüllte Stimme meines Vaters ist nicht mehr die einzige, die in dem beengten Raum zu hören ist. Meine jüngeren Schwestern Kathlyn und Sheila sind von ihren Sesseln aufgesprungen und brüllen jetzt wütend zurück. 

„So kannst du nicht mit Elmar umgehen!“

„Lass die beiden in Ruhe!“

„Elmar ist perfekt, so wie er ist!“, mischt sich auch Ben lautstark ins Geschehen ein.

Ich kann nur wie gelähmt dasitzen und auf den angeschnittenen Hackbraten auf dem Tisch vor uns starren. Alles verschwimmt um mich herum. Die Worte, die lautstark gebrüllt werden, kann ich kaum noch verstehen.

Ich muss hier weg. Aber ich kann nicht. Wie angewachsen sitze ich auf dem Stuhl im Wohnzimmer meiner Eltern, das noch immer so aussieht wie damals, als ich ein Kind war. Die Schrankwand aus dunklem Holz und die schweren Polstermöbel mit den dunkelgrünen Samtbezügen lassen das Zimmer immer etwas düster wirken. So wenig hat sich verändert und doch ist alles anders.

Eine Hand ergreift meine. Elisa, meine beste Freundin und die zukünftige Frau meines Bruders Ben, hat sich von ihrem Stuhl erhoben. Ihr dicker Bauch scheint die im siebten Monat Schwangere in dem Moment kaum in ihrer Bewegungsfreiheit einzuschränken. Sie zieht mich hoch. 

Aus den Augenwinkeln sehe ich eine Bewegung. Jean schiebt seinen Stuhl ebenfalls zurück und steht auf. Hat Elisa auch seine Hand genommen?

Während sie mich ansieht, bewegen sich ihre Lippen. Sagt sie etwas? Ich nehme durch das Gebrüll am Esstisch und das allgemeinen Chaos in meinem Kopf kaum etwas wahr. Alles ist von den nicht geweinten Tränen verschwommen. Ich fühle und bewege mich, als müsse ich durch eine gallertartige Masse schreiten.

Willenlos folge ich Elisa ins Vorzimmer. Der winzige Raum ist noch enger als sonst. Ich brauche einen Moment, bis ich verstehe, dass da nicht nur Jean, Elisa und ich sind. Auch Kathlyn, Sheila, Keiran, Thomas und Ben ziehen ihre Schuhe an. Alle meine fünf Geschwister. Sowie ihre Partner und Partnerinnen, die heute ebenfalls zum traditionellen Sonntagsessen bei meinen Eltern eingeladen waren.

Ich schlucke schwer und kann kaum verstehen, was hier passiert. Kann kaum glauben, was hier geschieht. 

Gehen jetzt alle wegen mir?!

Meine Tränen kann ich fast nicht mehr zurückhalten. Kommt da ein Schluchzen aus meinem Mund? Oder war es nur in meinem Kopf? Ich hoffe, es war nur in mir!

Dann sind wir endlich im Freien. Kalte Luft strömt in meine Lungen. Trotz meiner warmen Jacke friere ich. Ob es wirklich am kühlen Februarwetter liegt? Ich bin mir nicht sicher. Vielmehr fühlt es sich an, als käme die Kälte direkt aus meinem Herzen und würde sich in jedem einzelnen meiner Knochen festsetzen. Knochen, die Jean alle kennt. Ich nicht. Vielleicht sollte ich ihn fragen, was das bedeutet.

Kurze Zeit später sitze ich in der gemütlichen Konditorei am Eck. Die fröhlichen Stimmen meiner Geschwister umgeben mich. Ein Stück Schoko-Mango-Torte steht vor mir – eigentlich meine absolute Leibspeise, doch heute schmeckt sie nach Pappdeckel. 

Nach einer undefinierbaren Zeit wird es auf einmal ruhig um mich. Ben war doch gerade in Höchstform und hat einen Witz nach dem anderen rausgelassen. Warum hat er aufgehört? Überrascht hebe ich meinen Blick von dem nur wenig angerührten Tortenstück vor mir und blicke in das Gesicht meiner Mutter.

Sie steht einfach da, vor unserem großen Tisch, und sieht mich an. Ihre mittlerweile ergrauten Haare drohen aus dem Dutt herauszufallen, zu dem sie sie am liebsten für die Kirche und das Familienessen am Sonntag aufsteckt. Ihre Kleidung wirkt zerknittert, so als hätte sie in ihr heute schon viel zu viel erlebt. Die braunen Augen, die meinen so ähnlich sind, ruhen auf mir. Aber ich kann ihren Ausdruck nicht lesen. Sie wirken irgendwie leer. Nicht so strahlend wie früher, wenn sie mich angesehen hat.

Wieder füllen Tränen meine Augen und ich verstecke meine Hände unter der Tischplatte, als ich merke, dass sie zittern.

Erwartungsvoll sehe ich meine Mutter an. 

Sie wendet ihren Blick nicht von mir ab. 

Bitte!

Worum ich bitte, ist mir nicht klar. 

Sag etwas! Sag irgendwas! Sag, dass es okay ist, dass ich mit Jean zusammen bin! Sag, dass ich okay bin!

Aber es kommt kein Ton über ihre Lippen. Ein Stuhl wird gerückt. Sie nimmt Platz. Jemand stellt auch ihr ein Stück Torte hin. Es ist viel ruhiger als vorher. 

Als die Runde später aufbrechen will und ich gerade meine Jacke anziehe, steht meine Mutter zufällig neben mir, nimmt meine Hand und drückt sie kurz, als niemand es sieht.

Liebt sie mich noch?

Ist das eine Entschuldigung?

Für Vaters Verhalten?

Für ihres?

Ein Friedensangebot?

Ich weiß es nicht!

Eine unwillkommene Einladung

Jean

Nur mit einem um die Hüften geschlungen Handtuch gehe ich aus dem Bad in Richtung Wohnzimmer. Die Dusche war absolut herrlich. Fantastisch. Erfrischend. Ich fühle mich wie ein neuer Mensch. Genau das, was ich nach dem langen Dienst in der Klinik gebraucht habe. 

Ich bin froh, dass Elmar und ich dieses Wochenende arbeiten mussten. Das heißt, wir mussten nicht einmal darüber nachdenken, ob wir zum sonntäglichen Mittagessen bei seinen Eltern fahren. Nach dem Erlebnis in der letzten Woche habe ich eindeutig genug davon. 

Wut braut sich in meinem Magen zusammen, wenn ich nur daran zurückdenke. Dabei sind es nicht einmal die Worte seines Vaters, die mich so sehr verletzen. Homophobe Arschlöcher trifft man immer wieder. Ich kann das mittlerweile recht gut ausblenden. Es war vielmehr Elmars Blick, der mir die Tränen in die Augen trieb. Seine ganze Körpersprache. Wie er zusammengezuckt ist und im wahrsten Sinne des Wortes klein wurde. 

Es hat mir das Herz gebrochen, meinen wundervollen Mann so zu sehen. Elmar war danach für Stunden beinahe katatonisch. Erst abends hat er wieder auf Fragen geantwortet und danach hat es mehrere Tage gedauert, bis er wieder mehr oder weniger der Alte war.

Ich würde seinem Vater am liebsten an die Gurgel gehen! Wie kann man nur so herzlos sein?

Schnell dränge ich alle Gedanken an das grauenhafte Erlebnis zurück. Heute ist ein neuer Tag. Ich bin frisch geduscht und herrlich entspannt – alles, was man sich nach einem langen Dienst im Krankenhaus wünschen kann.

Okay, vielleicht nicht alles. Mein Verlobter hat es leider nicht ins Badezimmer geschafft, sondern sitzt noch immer im Wohnzimmer. 

Ich halte kurz inne, während sich ein Lächeln über mein Gesicht zieht. Es löst in mir jedes Mal ein Hochgefühl aus, das zu sagen – oder auch nur zu denken: mein Verlobter. Dabei ist es jetzt schon beinahe ein Jahr her, seit Elmar mich gefragt hat … Aber trotzdem durchströmen mich immer noch Glücksgefühle, wenn ich mir ausmale, wie ich den Rest meines Lebens mit diesem wunderbaren Mann verbringen werde.

Eigentlich hatte Elmar, als ich nach Hause gekommen bin, versprochen, dass er mir unter der Dusche Gesellschaft leistet, aber irgendetwas muss meinen entzückenden, zukünftigen Mann abgelenkt haben. Oder hat mich die Geduld zu schnell verlassen?

Aber nach dem nicht enden wollenden Wochenenddienst will ich nur noch Elmars Arme um mich herum spüren. Und eigentlich hatte er mir versprochen, dass er mir den Rücken einseift. Und auch andere Körperteile.

Doch dann hat sein Handy gebimmelt …

Meine nassen Füße machen leise schmatzende Geräusche auf dem Parkett der Altbauwohnung, die wir uns vor gut einem halben Jahr zusammen gekauft haben. 

Wie so oft sitzt Elmar auf dem dicken, roten Wollteppich direkt vor unserer gemütlichen Couch und drückt auf seinem Smartphone herum. Es hat Monate gedauert, bis er sich zu einer Entscheidung bezüglich des Sofas durchringen konnte. Entweder waren sie zu groß oder zu klein oder die Farbe war hässlich oder – sein Lieblingsargument: Es ist nicht gemütlich genug.

Dann, vor ein paar Monaten, hatte ich einen Patienten, der von Beruf Polstermacher ist. Als wir ins Gespräch kamen, fragte ich ihn, ob er auch eine Couch machen könnte. Und siehe da: Für eine ganze Reihe von Kunden hatte er bereits Spezialanfertigungen erstellt. An unserem nächsten freien Tag habe ich Elmar in die Werkstatt geschleppt und so haben wir jetzt eine maßgefertigte, ultra kuschelige, mittelgraue Couch. 

Nur sitzt mein lieber Mann nach wie vor lieber auf dem Boden davor. Während Sessi, unser kleines Fellknäul, sich auf dem teuren Möbelstück ausbreitet. Sessi ist natürlich kurz für Prinzessin, wie könnte es auch anders sein. 

Vor zwei Monaten sind Elmar und seine Dienstpartnerin Astrid zu einem Einsatz gerufen worden. Ein kleines Kätzchen war in einen Kanalschacht gefallen. Nachdem es die Feuerwehr gerettet hatte, konnte kein Besitzer von dem süßen, kleinen Katzenmädchen ermittelt werden. Also brachte Elmar die grau-weiß gescheckte Katzendame mit nach Hause. 

Ich war am Anfang von der ganzen Sache nicht begeistert. Noch nie in meinem Leben hatte ich ein Haustier. Aber Sessi hat sich mit ihren unschuldigen, großen Augen und der riesigen Persönlichkeit, die der eines Tigers gerecht werden würde, auf leisen Pfoten sofort in mein Herz geschlichen. Die junge Dame weiß genau, was sie will, und macht uns das auch immer unmissverständlich klar.

Ich muss lächeln. Mit Elmar an meiner Seite wird das Leben nie langweilig.

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