KAPITEL 1

Ein neues Team

Nico

Mein Telefon läutet.

Verdammt! Warum gerade jetzt?

Fünf Minuten. 

Warum habe ich nie auch nur fünf Minuten Ruhe?

Was soll ich tun?

Es einfach ignorieren?

Meine Hand umfasst meinen Schwanz und den langen schwarzen Doppeldildo, den ich gerade fest gegen mein bestes Stück gedrückt habe, noch etwas fester. Das gute Teil war ein Geschenk von einem Schulfreund, der dachte, er könne mir mit so etwas die Schamesröte ins Gesicht treiben. Aber weit gefehlt! Meine Eltern haben mich von klein auf darauf trainiert, in der Öffentlichkeit in keinem Fall irgendwelche Emotionen zu zeigen. Mit 16, als sich dieses gute Stück unter meinen Geschenken befand, war ich mehr als dazu in der Lage, jegliche Reaktion zu unterdrücken.

Und im Ernst, der Witz an der Sache ist viel mehr, dass der überlange Gummischwanz eines der besten Geschenke war, die ich je bekommen habe.

Zum Glück hört das nervige Gebimmel von meinem Handy in diesem Moment auf. Manchmal ist es doch die beste Idee, keine Entscheidung zu treffen!

Stattdessen widme ich meine volle Aufmerksamkeit wieder meinem nackten Körper. Ich liebe das Gefühl eines anderen Schwanzes an meinem und da ich das im echten Leben nicht erfahren kann, ist dieses Geschenk goldwert.

Meine linke Hand gleitet über meinen Brustkorb und findet meinen Nippel. Erwartungsvoll beiße ich mir auf die Unterlippe. Dann packe ich mit meinen etwas zu langen Fingernägeln fest zu. Süßer Schmerz durchzuckt mich, lässt Blitze aus Lust durch meinen Körper rasen. 

Meine Nippel scheinen einen direkten Draht zu meinem besten Stück zu haben. Ich stöhne, als ich spüre, wie ein weiterer Lusttropfen aus mir herausquillt.

Das ist so gut!

Es ist schon viel zu lange her, seit ich mir das letzte Mal wirklich Zeit genommen habe, um mit mir zu spielen. In den letzten Wochen war nicht mehr als schnelles Abwichsen unter der Dusche drin. Und dann zurück zum Training, Training, Training. Und was hat es mir gebracht?

Mit einem schnellen Kopfdrehen schiebe ich den Gedanken zur Seite. Es bringt nichts, mich damit zu quälen. Genieß die freie Zeit, Hovenberg!, feuere ich mich innerlich an.

Noch einmal drücke ich meine steil aufgerichtete Brustwarze fest zusammen. Der Schmerz erdet mich. Bringt mich aus meinem Kopf wieder hierher zurück. Macht mir wieder bewusst, wie geil es sich anfühlt, den schwarzen Dildo gegen meinen Schwanz zu reiben. 

Ich lasse von meinem Nippel ab und umschließe nun mit beiden Händen meinen echten und den künstlichen Schwanz auf ihm. Ich habe mich selbst bereits lange genug auf die Folter gespannt, den drohenden Höhepunkt bereits dreimal abgewendet und mich selbst mit zu langsamen Bewegungen und einen zu lockeren Griff in den Wahnsinn getrieben.

Da piepst mein Handy!

Verdammt! Warum habe ich das blöde Teil vorher nicht ausgeschaltet? Oder zumindest auf lautlos gestellt? Habe ich jetzt eine SMS bekommen oder hat mir der Anrufer eine Sprachnachricht hinterlassen?

Egal! Es ist Zeit zu kommen.

Ich schlucke einmal, atme tief durch, dann drücke ich meine Hände noch fester zusammen. Als sich das relativ steife Material des Dildos schmerzhaft gegen meinen fast ebenso harten Schwanz drückt, stöhne ich laut auf. So gut!

Ja, ich bin pervers, aber zum Glück ahnt das niemand. Was ich alleine in meinen vier Wänden mache, geht verdammt noch einmal niemanden etwas an.

Dann beginne ich mich selbst ernsthaft zu wichsen. Jetzt gibt es kein Erbarmen mehr. Mein Griff bleibt fest, die Auf- und Abbewegungen sind schnell. Ein Geräusch kommt aus meinem Mund. Es ist beinahe ein Schluchzen. Endlich!

Nicht aufhören!

Nicht aufhören!

Nichts auf der Welt würde mich dazu bringen, jetzt aufzuhören!

Da der künstliche Penis ein Doppeldildo ist, ist er mit seinen schätzungsweise 40 Zentimetern überdurchschnittlich lang. Durch meine schnellen Bewegungen schlägt die Überlänge des guten Stücks jedes Mal gegen meine Eier. Ja, bitte!

Ich halte die Luft an, stelle meine Beine auf und spreize sie noch etwas mehr – so weit, dass die Sehnen in meinen Oberschenkeln deutlich zu ziehen anfangen. Stockend atme ich aus! So gut, so gut!

Der Bereich hinter meinen Eiern zieht sich zusammen. Kribbelt. Schreit nach Aufmerksamkeit. Aber so pervers bin nicht einmal ich.

Stattdessen ziehe ich das Tempo meiner Hände noch einmal an. Ja! Ich bin mir nicht sicher, ob das Wort gerade hörbar über meine Lippen kam oder ob der Schrei nur in meinem Kopf so ohrenbetäubend laut war. Aber ich habe keine Zeit, um mir darüber Gedanken zu machen. 

Mein ganzer Körper vibriert. Ich glaube, ich weiß nicht einmal mehr, wie ich heiße. Stattdessen bin ich nur noch eine zitternde Masse aus reiner Lust.

Ich will nur noch eins: Ich will kommen.

Doch ich zwinge mich, mich zurückzuhalten.

Zwinge mich, meinen Orgasmus so lange wie möglich hinauszuzögern. 

Noch nicht!

Ich beiße meine Zähne fest zusammen. Es würde mich nicht wundern, wenn einer von ihnen bricht.

Noch nicht!

Irgendwie muss ich mich bewegt haben, denn auf einmal schlägt das lange Ende des Gummischwanzes nicht mehr auf meine Eier. Oder besser gesagt: nicht mehr nur. Die dicke Eichel des Kunstpenis berührt den versteckten Bereich hinter meinen Hoden. Den Bereich, den ich noch nie zu entdecken gewagt habe – so sehr er mich auch reizt. So sehr Pornos auch versuchen, mir einzureden, dass es völlig normal sei, dort berührt werden zu wollen.

Es ist wie ein Peitschenschlag – und es bringt mir die höchste Lust. 

Meine Augen, die bisher geschlossen waren, sind plötzlich weit offen. Mein Mund ist wie zu einem Schrei verformt, aber kein Ton kommt heraus. Ich fühle mich, als ob in meinem Körper kein einziges Sauerstoffmolekül mehr vorhanden sei. 

Für einen Moment scheint die Zeit stillzustehen. Alles konzentriert sich auf die kleine Stelle, die mein geliebter Dildo so überraschend berührt hat. Dann bricht ein wahrer Orkan los. Ungekannte Lust breitet sich von diesem einen Punkt überallhin aus.

Nicht ein einziger Gedanke ist mehr in meinem Kopf. Den Höhepunkt weiter hinauszuzögern, ist in keinem möglichen Universum mehr eine Option. Nicht, dass ich diese Idee überhaupt noch gehabt hätte. 

Mein ganzer Körper zittert. Endlich dringt der Schrei, den mein Mund schon so lange erwartet, aus meinem Körper. 

Und dann spritzt mein Samen heiß auf meinen Bauch. 

Weitermachen!

Weitermachen!

Mehr!

Mehr!

Wieder und wieder wichse ich meinen steifen Schwanz. Wieder und wieder zuckt er, verteilt noch mehr von meinem Saft auf mir. 

So empfindlich!

Weiter!

Das Zittern in meinem Körper verändert sich. Gänsehaut breitet sich auf jedem Quadratmillimeter meiner Haut aus. Es ist ein glorreiches Gefühl! Halb reine Lust, halb blanke Verzweiflung.

Mein Körper ist am Ende!

Aber ich will mehr!

Noch einmal wichse ich mit einer unbarmherzigen Bewegung meinen Schwanz und seinen künstlichen Bruder.

Ein Wimmer kommt aus meinem Mund.

Selbst in meinen eigenen Ohren klinge ich verzweifelt.

Noch nicht!

Ein weiterer Tropfen meines Samens quillt aus mir heraus. Das Zittern meines Körpers wird so stark, dass ich den schraubstockartigen Griff um mein bestes Stück nicht mehr aufrechterhalten kann.

Verdammt!

Ich lasse meine Arme zur Seite fallen und starre auf die Decke. Endorphine strömen durch meinen Körper und lassen mich im siebten Himmel schweben, während meine Lunge fieberhaft versucht, genug Sauerstoff in meinen Körper zu pumpen.

Ich merke, wie sich meine Lippen zu einem Lächeln verziehen.

Verdammt, das war gut!

Wann war das letzte Mal, dass ich so intensiv gekommen bin?

Die Antwort liegt sofort auf der Hand: nie!

Schnell schüttle ich den Kopf, um die Implikationen dieser Antwort aus meinem Gehirn zu vertreiben. Erstaunlicherweise gelingt mir das sogar.

Für weiß Gott wie lange liege ich verschwitzt und zufrieden auf den weichen Laken meines viel zu großen Bettes in der kleinen Wohnung im Terenberger Stadtzentrum, die ich vor Jahren von meiner Tante geerbt habe. Terenberg ist die Hauptstadt meines Heimatlandes Terengien, eines kleinen, in der Nordsee gelegenen, Inselstaats.

Dann piepst mein Handy erneut.

Oh Gott!

Habe ich mir gerade echt einen runtergeholt, während mich jemand angerufen hat? Und das auf diese absolut perverse Art und Weise? Wahrscheinlich war es meine Mutter! Wer würde mich sonst mitten am Vormittag anrufen?

Schnell greife ich zu dem kleinen weißen Handtuch, das ich vorher auf dem Kopfkissen neben mir bereitgelegt habe, und wische mir damit verschämt den Bauch ab. Dann wickle ich den Dildo darin ein und lasse beides neben dem Bett auf den Boden fallen. Aus den Augen, aus dem Sinn.

Meine schwarze Boxershorts liegt neben meiner Hüfte auf dem Bett. Routiniert schlüpfe ich hinein, setze mich auf und schüttle meine Arme aus. Sie kribbeln immer noch – aber jetzt ist es ein unangenehmes Gefühl, als würden sich Ameisen unter meiner Haut vergnügen.

Nico, ganz egal wer der Anrufer war, er oder sie kann nicht ahnen, was du gerade getan hast – selbst, wenn es Mutter war, versuche ich mir selbst Mut zuzusprechen.

Und es funktioniert.

Ein bisschen zumindest.

Ich werde wenigstens so ruhig, dass ich in der Lage bin, mein schickes neues Telefon vom Nachtschrank zu nehmen und zu entsperren.

Da erwartet mich eine Überraschung. Der Anrufer war nicht meine Mutter, sondern eine Nummer, die ich nicht eingespeichert habe. Verständnislos starre ich auf den kleinen Bildschirm. Aber auch durch das genaue Studium geben die Zahlen ihr Geheimnis nicht preis. 

Da fällt mir auf, dass die Nachrichten-App mit einem roten Punkt versehen ist. Stimmt! Da war ja noch dieses Piepsen. Schnell tippe ich auf das Icon. Ich habe eine Sprachnachricht.

„Hallo Herr Hovenberg. Hier spricht Viktor Edvardsen.“ 

Mein Telefon fällt mir beinahe aus der Hand. Mein Herz droht, aus meiner Brust zu springen. Was will der Cheftrainer der terengischen Eishockey-Nationalmannschaft von mir? In meinem Hinterkopf formt sich ein Wort und wiederholt sich in Dauerschleife.

Bitte, bitte, bitte!

Aber Herr Edvardsen sagt nicht viel mehr. Er bittet um einen Rückruf und hinterlässt eine Nummer.

Als ich die Wiedergabe der Sprachnachricht beende, fühle ich mich wie nach einem dreistündigen Training. 

Bitte, bitte, bitte!

Mit zitternden Fingern drücke ich auf die mir unbekannte Nummer in meiner Anrufliste.

Bitte, bitte, bitte!

Bevor das erste Piepsen ertönt, bin ich schon vom Bett aufgesprungen und schreite nervös auf und ab.

Mit meinen Zehen stoße ich dabei gegen etwas, das auf dem Boden liegt: Mein geliebter Dildo rollt aus seinem Handtuchversteck und verschwindet unter meinem Bett. Mir wird gleichzeitig heiß und kalt, als mir wieder einfällt, was ich gerade gemacht habe, als Herr Edvardsen mich anzurufen versucht hat. 

Warum musste ich ausgerechnet diesen Vormittag damit verbringen, mich ausführlich selbst zu befriedigen? Wieso habe ich damit nicht aufgehört, als mein Telefon geläutet hat? Das ist so peinlich!

Ich dem Moment wird mir auch bewusst, dass ich nur mit einer Boxershorts bekleidet bin. Ich tätige einen Anruf, der das Potenzial hat, mein ganzes Leben zu verändern – der mir meinen größten Traum erfüllen kann –, und ich bin quasi nackt.

Panik ergreift mich, doch da höre ich eine Stimme.

„Edvardsen.“

Verdammt!

Was sage ich nur?

Ich räuspere mich. Mein Hals ist so trocken, dass ich keine Silbe herausbekomme. 

Reiß dich zusammen. Du bist ein Hovenberg! 

Die beiden kurzen Sätze, die mit der Stimme meines Vaters durch meinen Kopf hallen, machen alles nur noch schlimmer.

„Herr Edvardsen“, krächze ich hervor. Es gelingt mir zu schlucken, aber meine Kehle schnürt sich zu. Trotzdem zwinge ich mich, weiterzusprechen und hülle mich in die von Kindesbeinen an antrainierte Distanz. Ich ziehe die Arroganz wie einen Mantel an. 

„Hier ist Nico Hovenberg. Sie haben versucht, mich zu erreichen.“

Ah, das klang doch ganz gut. Etwas zittrig vielleicht, aber immerhin waren es vollständige Sätze. Ich werte das schon einmal als einen Sieg.

„Ja, Herr Hovenberg. Vielen Dank für Ihren Rückruf.“

Soll ich darauf etwas antworten?

Viktor Edvardsen war der erste terengische Eishockeyspieler, der es geschafft hat, in die NHL, die National Hockey League, die beste Eishockeyliga der Welt, gedraftet zu werden. Er hat dort in zehn aktiven Saisonen eine unglaubliche Karriere hingelegt, mehrere Trophäen gewonnen und sein Team zum Sieg der gesamten Liga geführt. Zweimal.

Ich habe den Draft zwar auch geschafft, wurde allerdings von meinem Team, den Toronto Maple Leafs, sofort an ihr assoziiertes Team in der AHL (American Hockey League), der zweithöchsten nordamerikanischen Liga, geschickt. Diese Liga gilt als Talenteschmiede für die NHL. Aber ich friste nun schon die fünfte Saison bei den Toronto Marlies dahin. und habe es nicht einmal in die Auswahl des Nationalteam von Terengien für die Olympischen Winterspiele in Peking geschafft.

Zum Glück kommt der Mann, den ich mein ganzes Leben lang bewundert habe, direkt zum Punkt: „Ich weiß nicht, ob sie heute schon die Nachrichten verfolgt haben.“

Nein, das habe ich nicht.

„Leider hat sich Stefan Lindenberg, einer unserer linken Flügel, beim Skifahren verletzt. Ich brauche einen Ersatz.“

Ich schlucke aufgeregt. Ist es das? Bekomme ich doch noch die Chance, mein Land bei den Olympischen Spielen zu vertreten? Bekomme ich die Chance, mich zu beweisen und vielleicht doch noch einen Platz in der NHL zu ergattern?

Ich bin nämlich auch ein linker Flügel. 

Von den fünf Feldspielern auf dem Eishockeyfeld sind drei Angriffsspieler und zwei Verteidiger. Die Angreifer sind der Center in der Mitte und dann der rechte und eben der linke Flügel.

Bitte, bitte, bitte!

Ich halte die Luft an. Nein, ich glaube, seit ich den Anruf angenommen habe, habe ich keinen einzigen Atemzug genommen. Wahrscheinlich wird mir gleich schwarz vor den Augen.

„Ich habe sie nominiert“, dringt die erlösende Nachricht an mein Ohr. „Das Trainingslager startet in zwei Stunden. Schaffen Sie es bis dahin zur Viktor-Edvardsen-Halle?“

Natürlich ist die größte und modernste Halle unserer Hauptstadt nach dem Mann benannt, mit dem ich gerade am Telefon spreche. Und was ist das für eine Frage? Ich würde Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um rechtzeitig beim Training aufzutauchen. 

„Ja“, sage ich aufgeregt und spüre, dass mir noch immer die Luft in meinen Lungen fehlt. 

„Gut! Ich sehe Sie dann da.“

Bevor ich ein weiteres Wort über meine Lippen bringen kann, hat er aufgelegt. 

Daniel

„Hey Mann!“

Das Sonnenlicht bricht sich von den großen Spiegeln und goldenen Rahmen des weitläufigen Saales in Schloss Terenberg, in dem gerade der Empfang von König Alexander für die terengischen Athleten, die an den Olympischen Winterspiele teilnehmen, stattfindet. Kaum hat unser Staatsoberhaupt seine Rede beendet, kommt Prinz Leo mit großen Schritten auf mich zu. Im nächsten Moment bleibt mir fast die Luft weg, weil ich mich in einer überraschend kräftigen, aber herzlichen Umarmung wiederfinde.

Was ich meinen Eishockeykollegen immer verschwiegen habe, ist, dass der König ein Cousin vierten oder fünften Grades von mir ist. Theoretisch scheine ich sogar irgendwo in der terengischen Thronfolge auf. Aber da das vermutlich jenseits des zweihundertsten Platzes sein muss, ist es völlig irrelevant. Allerdings hat diese entfernte Verwandtschaft ausgereicht, um zusammen mit meinen Großeltern hin und wieder zu größeren Veranstaltungen in den Palast eingeladen zu werden. 

König Alexander war immer ausgesprochen höflich zu mir, aber mit seinem jüngeren Bruder Leo hatte ich eine Menge Spaß. Später haben wir uns dann durch gemeinsame Freunde auch außerhalb der Palastmauern getroffen. Bevor ich auf die unerwartete Umarmung reagieren kann, ist Leo wieder einen Schritt von mir zurückgetreten und betrachtet mich eingehend. 

„Ich wollte eigentlich sagen, dass du gut aussiehst, aber irgendwie stimmt das nicht“, stellt er mit schief gelegtem Kopf fest. 

Ich schüttle lachend den Kopf, auch wenn ich ihm innerlich zustimmen muss. Die letzten Tage haben ihren Tribut gefordert. Schnell schiebe ich alle Gedanken, alles was passiert ist, zur Seite und versuche stattdessen, Leo etwas aufzuziehen und dadurch von meinem inneren Aufruhr abzulenken: „Ganz der Charmeur, wie immer!“

„He! Eigentlich müsste ich sauer auf dich sein, weil du nicht zu unserer Hochzeit gekommen bist!“, empört sich Leo. Das verschmitzte Glitzern in seinen Augen verrät mir sofort, dass er es nicht ernst meint. 

Aber er hat recht, es war wirklich eine Schande, dieses Event zu verpassen. Ich werde es wohl immer bereuen, aber wir waren da mitten im vorbereitenden Trainingslager zur neuen Saison und ich hatte keine Möglichkeit, auch nur für ein paar Tage zurück nach Hause zu fliegen.

Da tritt ein weiterer Mann zu uns heran. Gut einen halben Kopf kleiner als Leo und ich, drahtig und sehnig. Scheinbar ohne bewusstes Zutun vonseiten des Prinzen schließt sich seine Hand sofort um die seines Ehemanns. Sein Blick verlässt mein Gesicht und er bekommt ein ganz besonderes Strahlen in den Augen, als er sich kurz seinen Partner zuwendet.

Sollte so Liebe aussehen? Ich glaube, das hatten Claudia und ich nie.

Ich muss das Gesicht verzogen haben, denn Leo runzelt die Stirn, als er sich mir wieder zuwendet.

„Beachtet mich gar nicht“, beginne ich gespielt fröhlich, doch dann weiß ich nicht weiter. Ungefragt dringt die Wahrheit aus meinem Mund: „Claudia und ich haben Schluss gemacht.“

Ich denke an den Tag zurück, als die NHL eine Spielpause verkündet hat, damit wir für unsere Länder an den Olympischen Winterspielen teilnehmen können. Freudestrahlend habe ich zum Telefon gegriffen und meine langjährige Freundin Claudia angerufen. Ich hatte Glück! Die neun Stunden Zeitverschiebung zwischen Kalifornien und Österreich haben es ermöglicht, dass ich sie passend zum Frühstück erwischt habe. Sie lebt in Wien, da sie dort ihren Traumjob als Mitarbeiterin in der Initiative Sustainable Energy for All (Nachhaltige Energie für alle) bei der UNO gefunden hat. 

Ja, die letzten beiden Jahre waren immer wieder schwierig. Aber so ist es nun einmal, wenn man auf verschiedenen Kontinenten lebt und beide einer herausfordernden Karriere nachgehen. 

Wir hatten uns auf dem College kennengelernt, als wir denselben Kurs über nachhaltige Energiewirtschaft besuchten. War spannender, als es der etwas spröde Titel vermuten ließ. 

Claudia war wortgewandt, leidenschaftlich und dazu noch wunderschön. Ich war vom ersten Moment an von ihr fasziniert. Über Wochen haben wir uns heiße Diskussionen in der Klasse und auf dem Campus geliefert, bis aus den Debatten schließlich mehr wurde. Ich werde nie vergessen, wie glücklich ich war, als sie endlich zu einem unserer Spiele kam. Lange hatte sie sich geweigert, da Eishockey, gerade im sonnigen Los Angeles, nicht die energieeffizienteste Sportart ist. Aber irgendwann konnte sie meinem Charme nicht mehr widerstehen. 

Dann hatte ich doppeltes und dreifaches Glück. Ich wurde von den L.A. Kings, der in Los Angeles ansässigen NHL-Mannschaft gedraftet. Wir waren glücklich. So glücklich. Fünf Jahre lang. Bis sie mir vor zwei Jahren eröffnete, dass sie ihren Traumjob gefunden hat. Fast 10.000 Kilometer Luftlinie entfernt. Beinahe 14 Flugstunden. In Wien.

Aber selbst da gab ich noch nicht auf. Warum auch? Es würde ja nur für ein paar Jahre sein und ich liebte sie doch.

Ich fahre mir mit der linken Hand durch meine wie immer wild in alle Richtung stehenden, beinahe schwarzen Haare. Nicht einmal das stärkste Gel wird ihnen Herr, deswegen habe ich schon vor Jahren aufgegeben und trage sie eher kurz.

Aber die sonst so beruhigende Geste hilft nicht, um den Schmerz, der bei dem Gedanken an dieses Telefonat entsteht, zu dämpfen. Mein Herz zieht sich krampfhaft zusammen. Sollte ich vielleicht doch einen Kardiologen aufsuchen? Kann ein gebrochenes Herz ein Problem bei der Ausübung von Leistungssport sein?

Egal wie sehr ich versuche, mich mit Gedanken an medizinische Sachverhalte abzulenken, ich kann es nicht verhindern, dass die Stimme meiner Ex-Freundin in meinen Kopf ertönt. In genau dem emotionslosen, beinahe gelangweilten Ton, in dem sie mir bei dem besagten Telefonat klargemacht hat, dass sie nicht plant, mit mir nach Peking zu fliegen. Wie sie mir gesagt hat, dass es zwischen uns aus ist. Wie sie mir klargemacht hat, dass es keine Zukunft mehr für uns gibt. Dass es keinen Sinn mehr hat. Dass sie mich nicht mehr liebt.

Nach beinahe sieben gemeinsamen Jahren. 

Ich beiße die Zähne so fest aufeinander, dass mein Kiefer zu schmerzen beginnt. 

Nicht einmal der hektisch umgebuchte Flug nach Wien anstatt nach Terengien und das mit meiner Anwesenheit erzwungenen Gespräch konnten ihre Einstellung ändern.

Sie will nicht mehr. Und wenn ich ganz ehrlich bin, hatten wir uns wahrscheinlich schon auseinandergelebt, bevor sie nach Wien übersiedelte. Nur war Claudia diejenige, die endlich den längst fälligen Schlussstrich gezogen hat – während ich versucht habe, künstlich etwas am Leben zu erhalten, das schon lange tot war. 

Weh tat es trotzdem. 

Jetzt sind es die beiden Männer mir gegenüber, die das Gesicht verziehen.

„Das tut mir echt leid“, sagt Guillaume schließlich in seinem französisch singenden Akzent. 

Ich habe den Gemahl des Prinzen nur wenige Male getroffen, aber er scheint mir ein echt guter Kerl zu sein. Und er liebt Hockey – was kann man sich mehr von einem Mann wünschen?

Vielleicht, dass er einen so ansieht wie die beiden einander?, piepst da eine kleine Stimme in mir.

„Ja … Nein … Es war Zeit. Ich glaube, wir hatten uns schon lange auseinandergelebt, aber irgendwie wollte ich es nicht wahrhaben …“, stottere ich verlegen und merke zu allem Überfluss auch noch, dass mir die Hitze ins Gesicht steigt. 

„Trotzdem hart“, meint Leo mit einem Verständnis ausdrückenden Schulterzucken. „Mir hat meine letzte Trennung aber zumindest Guillaume eingebracht.“ Verliebt sieht er seinen Mann an.

Neid steigt in mir auf. Mir war schon als Jugendlicher klar, dass ich bi bin. Aber es gibt nur zwei Menschen, die das überhaupt wissen. Okay, meine zwei besten Freunde und die paar wenigen Kerle, mit denen ich, bevor ich mit meiner Ex zusammengekommen bin, ins Bett gestiegen bin.

Ich dachte immer, dass es keine Rolle spielen würde, dass ich nicht geoutet bin. Dass es egal sei, weil ich in einer Beziehung mit einer Frau lebe. Aber das grüne Monster, das seine Krallen gerade tief in meinen Körper schlägt, belehrt mich eines Besseren.

Wer hätte das gedacht?

Warum ist mir das plötzlich so wichtig?

Ich habe keine Antworten auf meine Frage.

Die Welt scheint auf einmal den Atem anzuhalten. Natürlich kenne ich die offizielle Version, wie Leo seinen Guillaume kennengelernt hat: Sie haben sich zufällig auf einem Ball in Paris getroffen und es hat sofort gefunkt. Als das Bild, das die beiden outete, auf allen Fernsehkanälen gezeigt wurde, war es für die meisten eine totale Überraschung. Zumindest ich hatte vorher noch nicht einmal Gerüchte gehört, dass Leo (auch) auf Männer stehen könnte. 

Plötzlich stand aber im Raum, dass Leo sich schon vorher durch die ganze schwule Terenberger Bevölkerung gefickt hätte und dass seine vorherigen Freundinnen nur davon ablenken sollten. Andere behaupten gleichzeitig, dass er bi sei, aber vor Guillaume noch nie etwas mit einem Mann hatte. Leider haben sich die beiden nicht zu irgendwelchen Labels oder sonstigen Details geäußert und ich habe Leo seitdem nie in einer ruhigen Minute getroffen, sodass ich ihn hätte fragen können. 

Das ist meine Chance! 

Soll ich sie nutzen? 

Aber was genau soll ich fragen? 

Ja, wir kennen uns ganz gut, aber ist eine so persönliche Frage, noch dazu in diesem Rahmen, nicht unpassend?

„War es schwierig, sich zu outen?“, ertönt da meine Stimme. Für einen Moment bin ich von mir selbst überrascht. Es ist nicht ganz das, was ich eigentlich fragen wollte.

Leo sieht mich schon wieder suchend an, während Guillaumes Blick weich wird.

Ich hebe abwehrend die Hände und bin unglaublich dankbar, dass wir in einer etwas ruhigen Ecke des großen Spiegelsaals stehen, während sich der Rest der Athleten um König Alexander und seine Frau scharen. Ich atme einmal tief durch und treffe dann eine Entscheidung.

„Ich bin bi“, sage ich so schnell, dass die Worte beinahe ineinander überfließen. „Habe immer wieder einmal mit dem Gedanken gespielt, es der Welt mitzuteilen, aber irgendwie hatte es nie Priorität. Aber jetzt …“

„Kaum fünf Minuten Single und schon der ganzen Welt hinterher“, diagnostiziert Leo lachend. 

Mein Gesicht muss Bände sprechen, denn sein Lachen hört abrupt auf.

„Es ist dir wichtig“, er klingt beinahe erstaunt.

Ich zucke mit den Achseln. Nach einer kurzen Pause füge ich hinzu: „Ich habe einfach das Gefühl, nicht ganz ich sein zu können.“

„Dann tu es!“, antwortet Leo sofort.

„Sprich mit deinem Agenten darüber“, setzt Guillaume sofort etwas vorsichtiger hinterher.

Da fährt sich Leo mit seiner freien Hand übers Gesicht: „Ja, Guillaume hat recht. So ein ungeplantes Coming-out, wie ich es hatte, ist nicht ideal. Sprich mit deiner Agentin darüber. Aber …“, wieder einmal wirft er seinem Mann einen Blick zu, der Eis schmelzen lassen könnte, „… ich weiß, wie es sich anfühlt, wenn man ständig das Gefühl hat, dass irgendetwas mit einem falsch ist. Dass irgendetwas fehlt. Dass man nicht richtig ist. Für mich war es wie ein ständiges unangenehmes Kribbeln unter der Haut. Es hat mich beinahe in den Wahnsinn getrieben. Und so hart es war, so geoutet zu werden – vor allem, weil ich da erst selber so richtig angefangen habe, diesen Teil von mir zu akzeptieren –, so dankbar bin ich heute dafür, dass es so gelaufen ist. Wer weiß, wie lange ich mich sonst mit dieser Entscheidung herumgequält hätte. Seitdem bin ich frei. Und so glücklich wie noch nie.“

Mit diesen Worten beugt sich Leo zu Guillaume und gibt ihm einen sanften Kuss auf die Wange. Die Geste ist so keusch, aber gleichzeitig so intim, dass ich beinahe wegsehen muss. Gleichzeitig drehen sich die Räder in meinem Gehirn auf Hochtouren. Einige Fragen, die ich gar nicht gestellt habe, hat Leo beantwortet, aber er hat noch viele andere, neue aufgeworfen …

Doch bevor ich etwas sagen kann, steht ein Fotograf neben uns und scheucht uns zu den anderen. Für tiefe Gespräche bleibt da keine Zeit mehr, trotzdem ist der Rest der Veranstaltung noch ausgesprochen lustig.

Zum Schluss schmieden Guillaume und ich noch einen Plan: 

Der ehemalige Balletttänzer hat nach dem Unfall, der seine Karriere beendet hat, angefangen, Sledge-Hockey zu spielen und mit dem französischen Nationalteam Gold bei den Paralympics geholt. Sledge-Hockey ist eine Art von Eishockey für Menschen mit Beeinträchtigungen an den unteren Gliedmaßen. Die Regeln entsprechen weitgehend denen des Eishockeys, aber die Spieler sitzen in einer Art Schlitten und bewegen sich mit zwei abgeschnittenen Schlägern übers Eis. 

Ich liebe den Sport. Da der Trainer der Jugendmannschaft, in der ich früher gespielt habe, auch das terengische Sledge-Hockey-Team trainiert hat, habe ich dort immer wieder ausgeholfen. Sei es als Ersatz, wenn zu wenige Spieler da waren oder als Schiedsrichter, Assistenztrainer oder was auch sonst immer gebraucht wurde. Heute bin ich inoffizieller Assistenztrainer des Sledge-Hockey-Teams in Los Angeles, wenn ich Zeit habe – was leider viel zu selten der Fall ist. Die NHL-Saison ist lang und hart. 

Aber zurück zu unserem Plan. Irgendwann in den nächsten Tagen werden Guillaume und Leo die Eishalle erstürmen, in der wir unser Trainingslager haben und das ganze Nationalteam zu einer Partie Sledge-Hockey herausfordern. Ich kann es kaum erwarten! Das wird ein Spaß. Ich weiß, dass viele meiner Kollegen diesen Sport noch nie ausprobiert haben.

Mittlerweile sind wir in dem Hotel angekommen, in dem wir fürs Trainingslager untergebracht sind. Es ist ein nichtssagendes Hochhaus, das von einer internationalen Hotelkette betrieben wird. Die eher kleinen Zimmer sehen aus, wie Hotelzimmer in jeder x-beliebigen Großstadt eben aussehen. Ich würde viel lieber in dem Apartment wohnen, das ich mir vor ein paar Jahren direkt am Domplatz in Terenberg gekauft habe. Es wäre nicht einmal weit weg von der Eishalle. Gerade 20 Minuten mit dem Auto. 

Oder in meinem alten Zimmer in der Villa meiner Großeltern. Sie kommen mich zwar regelmäßig in Los Angeles besuchen, aber da bin ich meistens so eingespannt, dass außer ein paar gemeinsamen Essen kaum Zeit übrig bleibt.

Letzten Sommer bin ich auch nicht nach Hause geflogen. Ein paar Spielerkollegen und ich haben gemeinsam trainiert. Ich bin mir sicher, dass wir dieses Jahr die besten Chancen haben werden, den sagenumwobenen Stanley-Cup zu gewinnen. Die riesige Trophäe in der Hand zu halten, würde bedeuten, dass ich wirklich alles erreicht habe. Wenn das Opfer dafür ist, dass ich einen Sommer nicht bei meinen Großeltern verbringen kann, dann ist es ein Opfer, das ich einzugehen bereit bin.

Ich seufze, als meine Gedanken zu Claudia wandern. Ist auch das Ende unserer Beziehung ein Opfer des letzten Sommers? Doch in mir wird die Gewissheit immer stärker, dass es nichts geändert hätte, auch wenn ich diese Zeit in Wien verbracht hätte. Es war da schon aus, auch wenn ich es mir noch nicht eingestehen konnte. 

Schnell schiebe ich den deprimierenden Gedanken zur Seite und konzentriere mich auf das Hier und Jetzt – die Wohnsituation und das Trainingslager. Wie immer besteht der Trainer darauf, dass wir alle gemeinsam in einem Hotel übernachten. Wegen des Teambuildings und so weiter …

Die Wahrheit ist, ich kenne alle anderen Spieler aus dem Team, seit wir Kinder waren. Wir haben in einem der terengischen Nachwuchsteams entweder miteinander gespielt oder gegeneinander. Gerade weil Terengien eine Eishockeynation ist und fast in jedem Haushalt entsprechende Schläger herumliegen, mit denen im Sommer wie im Winter auf der Straße gespielt wird, kennt man sich. So viele Spieler sind es nämlich nicht, die es in die Auswahlmannschaften der U16 bis U18 schaffen.

Da ich noch eine gute Stunde habe, bis ich in der Eishalle sein muss, schmeiße ich die Inhalte meines Koffers in den schlichten Holzschrank in dem Zimmer, das für die nächste Woche mein Zuhause sein wird.

Song 2, das bekannte Lied der Band Blur, lässt mein Handy, das ich auf dem kleinen Schreibtisch vor dem einzigen Fenster abgelegt habe, lustig auf der Holzplatte tanzen. Ein Grinsen zieht über mein Gesicht. 

Diese Musik bedeutet nur eines!

„Hallo ihr beiden!“, antworte ich, sobald ich auf den Annehmen-Button gedrückt habe.

„Hi Daniel!“, schallt es zweistimmig und gut gelaunt zurück.

Elisabeth, Benjamin und ich waren von Kindergarten an gemeinsam in der gleichen Klasse, bis ich mit 16 Jahren in die USA gegangen bin. Über all die Zeit waren wir unzertrennlich. 

Irgendwann haben sich die beiden ineinander verliebt, aber ich habe mich nie als drittes Rad am Wagen gefühlt. Ich hatte ja immer mein Eishockey. Und wenn ich irgendetwas gebraucht habe, waren immer beide für mich da. So haben sie mich auch nach meiner erfolglosen Beziehungs-Rettungs-Aktion aus Wien gerettet.

Elisabeth ist heute Sportagentin, unter anderem von mir. Benjamin ist ins Familiengeschäft eingestiegen. Wobei ich das Gefühl habe, dass er mehr Zeit als Trainer für das Jugend-Eishockeyteam, in dem wir beide früher gespielt haben, aufwendet, als sich als Steuerberater um die Wünsche und Sorgen mittelständischer terengischer Unternehmen zu kümmern. Aber das ist seine Entscheidung. Früher war er jedenfalls ein sehr passabler Goalie.

„Hast du schon gehört, dass Stefan sich verletzt hat?“, fragt mich Elisabeth vorsichtig.

Ich stöhne laut auf. Stefan und ich sind ein eingespieltes Team. Wir spielen zusammen, seit wir vier Jahre alt waren. Er war immer mein linker Flügel. Unzählige Male hat er mir die perfekten Pässe geliefert, damit ich von meiner Position als Center die Scheibe im Tor versenken konnte. Er hat den Sprung in die NHL leider nicht geschafft – meiner Meinung nach vollkommen unverdient – und spielt heute in einem Verein der ersten schwedischen Liga.

„Sag mir nicht, dass der Esel Skifahren gegangen ist“, fordere ich meine beste Freundin verzweifelt auf. 

Stefan und Skifahren – das ist legendär. Ich glaube, er war nicht ein einziges Mal auf der Piste, ohne dass er sich wehgetan hätte.

Leider spricht das Schweigen am anderen Ende der Leitung Bände. Verdammt! Ich hatte mir für das bevorstehende olympische Turnier so große Hoffnungen gemacht. Wir haben ein echt starkes Team! Und jetzt fällt Stefan aus, weil er meinte, dass er seinen Fluch überwinden könne.

„Wie schlimm ist es?“

Vielleicht braucht er ja nur ein paar Tage Pause und kann dann seinen Platz wieder einnehmen.

„Drei gebrochenen Rippen.“

Verdammt!

Ich hatte mich so darauf gefreut, endlich wieder mit Stefan zusammen zu spielen. Wir zwei hatten immer fast so etwas wie Magie zwischen uns. Es war beinahe so, als ob wir die Gedanken des anderen lesen könnten. Wir konnten einander die verwegensten Pässe zuspielen und der andere stand immer genau richtig. So eine Chemie habe ich nicht einmal mit meinen Teamkollegen bei den L.A. Kings. 

Da zieht eine dunkle Ahnung wie eine schwarze Wolke in mir auf.

„Wer ist sein Ersatz?“

Benjamin seufzt laut, während seine Frau die Hiobsbotschaft überbringt: „Hovenberg.“

Frustriert lasse ich mich auf das Bett fallen. Nicht, dass es eine Überraschung wäre. Ganz ehrlich, die Überraschung war eigentlich, dass Nico Hovenberg nicht bei der ursprünglichen Aufstellung der Nationalmannschaft dabei war. Egal wie sehr ich ihn nicht ausstehen kann, er ist einer der besten Spieler, die unser kleines Land vorweisen kann.

„Sein Knie ist wieder verheilt“, tönt die Stimme meiner besten Freundin in einem viel zu vernünftigen Tonfall klar und deutlich durch mein kleines Zimmer. Ah, das könnte der Grund sein, warum er übersehen wurde. Er war gerade verletzt, als der Kader für die Olympischen Spiele im September verkündet wurde. 

Wobei … Sein Vater saß in jedem wichtigen Gremium und hat dafür gesorgt, dass sein Sohn ja überall dabei war. Aber gab es da vor zwei Jahren nicht irgendeinen Skandal? Ich bin einfach schon zu lange aus Terengien weg und die NHL-Saisonen sind zu fordernd, als dass ich genau verfolgen könnte, was sich in meinem Heimatland so alles tut. Aber ich meine mich daran erinnern zu können, dass der alte Hovenberg in Ungnade gefallen ist. An die Details kann ich mich aber nicht mehr erinnern.

„Nico hat in den letzten zehn Spielen durchschnittlich drei Punkte gemacht“, ergänzt Elisabeth.

Ein Drei-Punkte-Durchschnitt ist beachtlich, das muss selbst ich zugeben. Beim Eishockey werden die einzelnen Spieler nach Punkten bewertet. Ein Punkt für ein Tor, einen Punkt, wenn du den Pass geliefert hast, den dein Teamkollege dann versenkt. 

„Vielleicht spielt er ja nicht mit dir in einer Linie“, höre ich Benjamins hoffnungsvolle Stimme übers Telefon.

Elisabeth und ich antworten nicht darauf. Ja, der Trainer wird uns Spieler sicher in verschiedenen Kombinationen zusammen spielen lassen und probieren, was am besten funktioniert. Aber Juri, Emil und Matthias spielen in erster Linie bei den Terenberg Capitals, der Bundesligamannschaft unserer Hauptstadt. Die drei auseinanderzureißen, wird nichts bringen. Sie kennen einander im Schlaf. 

Die anderen beiden linken Flügel sind zwei ganz junge Spieler, der eine aus der U16 und der andere aus der U18. Beide sind gut, aber noch grün hinter den Ohren.

„Vielleicht findest du deine zweite Hälfte ja in Anton“, meint Benjamin und schlägt damit den U18-Spieler vor. „Oder du vergisst den linken Flügel und konzentrierst dich einfach auf deinen rechten.“

Wieder sagen Elisabeth und ich nichts. Ja, Gabriel ist als mein rechter Flügel aufgestellt. Auch ein Spieler, mit dem ich meine ganze Jugend zusammengespielt habe. Wir sind ein gutes Team. Doch die Strategie, die Benjamin da vorschlägt, mag eine sein, die noch bei Jugendmannschaften funktionieren kann, sicher aber nicht mehr auf dem Level Olympischer Spiele. 

Wir sind geliefert! Wenn wir es nicht schaffen, dass alle gut zusammenspielen, werden wir wohl bereits in der Gruppenphase ausscheiden. Die anderen Teams würden schnell merken, dass ich nur über meinen rechten Flügel spiele, dieses Wissen rücksichtslos ausnutzen und uns komplett vernichten.

„Ja, vielleicht klappt es mit Anton“, gebe ich fröhlicher zurück, als ich es eigentlich fühle.

Es klappt mit Anton nicht.

Ganz und gar nicht.

Der Junge hat Talent – ganz ohne Frage. Ebenso wie sein noch jüngerer Kollege. Aber die beiden sind nicht nur nervös, sie sind auch so schwer von meinem Ruf beeindruckt, dass sie mir gegenüber kaum den Mund aufbringen. Kommt schon Leute! Ich koche auch nur mit Wasser. 

Kein einziges Tor habe ich heute gemacht. Zugegeben, die Goalies sind in Höchstform, aber ich fühle mich, als müsste ich mit einem auf den Rücken gebundenen Arm spielen.

„Linienwechsel“, schallt da die laute Stimme unseres Cheftrainers übers Eis. Von den letzten 90 Minuten völlig verschwitzt, fahren wir alle auf die Bank zu, von der aus Herr Edvardsen mit eiserner Faust über sein Reich regiert. Er hat den Ruf, ein harter Hund zu sein, und diesen kommt er heute voll und ganz nach. Ich sehe, wie einige der Spieler versteckt Grimassen schneiden und muss mir auf die Unterlippe beißen, um nicht loszulachen. 

„Okay, Miller, Verieux und Hovenberg …“

Ich, Gabriel und Nico.

Den Rest von dem, was unser kahlköpfiger Trainer von sich gibt, blende ich aus. Es ist so weit. Irgendwie wundert es mich, dass er uns erst jetzt zusammen spielen lässt. Aber wahrscheinlich kennt auch er unsere Geschichte und hat es deshalb vermieden, mich und Hovenberg in eine Linie zu stecken. Terenberg ist ein kleines Land und selbst wenn die Ereignisse, die Hovenberg und mich zu Erzfeinden gemacht haben, gut ein Vierteljahrhundert zurückliegen, können sich so gut wie alle daran erinnern.

Ein unsanfter Stoß in die Rippen bringt mich wieder ins Hier und Jetzt. Gabriel grinst mich schief an, während die anderen bereits Aufstellung beziehen.

Na dann mal los.

Während ich zum Bullypunkt fahre, wo einer der Assistenztrainer gleich den Puck fallen lassen wird, überlege ich für einen Moment, ob ich absichtlich schlecht spielen soll. Soll ich so tun, als wären Hovenberg und ich völlig ungeeignet, um miteinander zu spielen? Aber was ist die Alternative? Unsere beiden Youngsters werden ihre Ehrfurcht mir gegenüber hoffentlich noch ablegen und dann … 

Aber kann ich mich wirklich darauf verlassen, dass sie unter dem großen Druck, der bei einem so gewaltigen Ereignis wie den Olympischen Spielen auf uns liegt, nicht die Nerven verlieren?

Und außerdem: Es liegt nicht in meiner Natur, nicht mein Bestes zu geben. Eishockey war schon immer meine große Liebe und ich würde mich wie ein Betrüger fühlen, wenn ich nur mit halbem Herzen spielen würde.

Dann habe ich auch schon keine Zeit mehr, um nachzudenken. Der Puck berührt das Eis, bestimmt angle ich mit meinem Schläger danach und gewinne das Bully für mein Team. Schon fliegen wir über das Eis auf das gegnerische Tor zu. Einer der Punkte, die mich immer so zum Eishockey hingezogen haben, ist die Geschwindigkeit des Sports. Es ist beinahe berauschend, sich so schnell fortzubewegen. Und dann die Verbindung, die man mit seinen Teamkollegen aufbaut. Dieses beinahe intuitive Verständnis füreinander, während man übers Eis fegt. Es hat etwas absolut Magisches.

Gabriel und ich machen zwei schnelle Pässe, um einen der gegnerischen Verteidigungsspieler zu umspielen. Dann wird Gabriel aber in einem gerade noch legalen Check gegen die Bande gedrückt, während der andere Verteidiger auf mich zustürmt. 

„Hier“, kommt Hovenbergs Stimme von links. 

Ein kurzer Blick in seine Richtung zeigt: Er steht auf dem perfekten Platz völlig frei. Ein kurzer Pass, ein Ausweichmanöver, dann höre ich das vertraute Klackern, als die Scheibe die Schaufel meines Schlägers wiederfindet. 

Hovenberg hat gesehen, dass ich mich freigelaufen habe und mir den Puck mit einem gekonnten Pass vorgelegt. Ich hole aus. Der Goalie ist noch auf der linken Seite des Tores. Wie wir alle hat er wohl erwartet, dass Hovenberg die Chance ergreifen und versuchen wird, den Puck selbst zu versenken. So wie er es immer getan hat. Er war immer einer der Spieler, für die der eigene Erfolg wichtiger war als der des Teams.

Aber jetzt wohl nicht mehr? Oder war das nur Zufall? Ist er erwachsen geworden?

So viele Gedanken, wie mir jetzt durch den Kopf gehen, als ich zum Schlagschuss aushole, habe ich normalerweise während eines gesamten Hockey-Spieles nicht. Abgeschabtes Eis wirbelt auf, als mein Schläger den Puck trifft und mir der einmalige Ton verrät, dass ich die Scheibe absolut perfekt getroffen habe. Der Goalie versucht verzweifelt, sich über das Eis und zwischen den Puck und das Tor zu schieben. Aber er ist zu weit draußen. Er hat keine Chance. Und so segelt die kleine schwarze Scheibe, um die sich mein ganzes Leben dreht, ohne den geringsten Widerstand in die rechte obere Ecke.

Jubel bricht aus. Gabriel fährt auf mich zu und umarmt mich stürmisch. Auch unsere beiden Verteidiger schließen sich an. Nur Hovenberg – er steht daneben. Sein Blick ist emotionslos. Dann dreht er sich um und fährt zum Bullypunkt zurück, als ob nichts gewesen wäre.

Ich werfe einen Blick zur Bank. Die buschigen Augenbrauen unseres Cheftrainers berühren sich fast, so fest zieht er sie zusammen.

Das kann ja heiter werden.

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