„Ich will nicht warten!“
Mit diesen Worten reiße ich die Tür zum Büro der Direktorin meines Internats auf. Ihre Assistentin ist mir dabei dicht auf den Fersen.
„Aber … Ihre Königliche Hoheit!“
Die Stimme der zierlichen jungen Frau klingt verzweifelt.
Ich sollte mich besser im Griff haben. Aber ich stecke nun einmal in meiner Haut und ich platze gleich. Mit raschen Schritten gehe ich auf den großen Schreibtisch auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes zu. Die niedrigen Absätze meiner schwarzen, zur Schuluniform passenden Schuhe klackern laut auf dem alten Parkettboden, bis das Geräusch schließlich vom dicken, dunkelroten Teppich direkt vor dem Schreibtisch der Internatsleiterin Beatrix van Westerbrock verschluckt wird.
Die Direktorin beobachtet die Szene mit unbewegter Miene. Sie ist eine hochgewachsene Frau Mitte fünfzig und hat in ihrer langen Zeit in diesem Internat wahrscheinlich mehr erlebt als so manch Abenteurer auf seinen ausführlichen Reisen. Ich kann nicht verhindern, dass sich ein schiefes Lächeln über mein Gesicht zieht. In meinem Kopf stiegen Bilder von der immer gütig, aber bestimmt wirkenden Frau mit ihren dunklen Haaren, die sie perfekt auf Kinnlänge geschnitten trägt, als Abenteuerin auf. Ein weiblicher Indianer Jones oder eher eine Lara Croft?
Ich muss mir fest auf die Unterlippe beißen, um nicht in lautes Lachen auszubrechen.
Auch der Mund der Direktorin zuckt, während sie mich mit ihren geduldigen blaugrünen Augen beobachtet. Ahnt sie etwa, was ich denke? Sie ist bekannt dafür, dass sie eine untrügliche Menschenkenntnis besitzt. Aber Gedankenlesen gehört hoffentlich nicht zu ihren Fähigkeiten. Wenn sie wüsste, was ich gerade gedacht habe, wäre das selbst mir peinlich. Obwohl … Nachdem ich die letzten Jahre damit verbracht habe, von einem Fettnäpfchen ins nächste zu treten, bin ich auf dem Gebiet mittlerweile schmerzbefreit.
Noch immer mit dem Amüsement kämpfend, das der Gedanken an Beatrix Croft mit einer Bullenpeitsche in der Hand in mir ausgelöst hat, stelle ich mich breitbeinig hin und verschränke meine Arme vor der Brust.
Ich weiß, dass ich meinen Gesichtsausdruck nicht ganz unter Kontrolle habe. Diese Kunst werde ich wohl nie meistern. Aber ich hoffe, dass meine Körpersprache genug ist, um zumindest Frau van Westerbrocks attraktive Assistentin, die mich nur von hinten sehen kann, davon abzuhalten, mich wieder aus dem Raum zu geleiten.
Die Augen der Direktorin funkeln belustigt. Im Gegensatz zu mir beherrscht sie aber die Kunst der Gesichtsmuskelkontrolle. Ihre Miene ist unlesbar.
„Es ist okay, Sabine“, sagt sie ruhig zu ihrer Assistentin, während sie ihren Blick nicht von mir abwendet.
Ich atme aus, als ich die alte Holztür hinter mir ins Schloss fallen höre. Unelegant lasse ich mich auf einen der beiden schweren hölzernen Sessel fallen, die vor dem ausladenden Schreibtisch stehen.
Ohne ein weiteres Wort öffnet van Westerbrock eine der vielen Schubladen des alten Ungetüms. Wahrscheinlich haben schon Generationen von Direktorinnen und Direktoren vor ihr diesen Tisch genutzt. Mit seiner Gravitas und Geschichtsträchtigkeit passt er nicht wirklich zu der aktiven Frau, die ihn im Moment ihr Eigen nennt.
Dann stellt sie eine Schachtel mit belgischen Pralinen zwischen uns auf den großen Tisch und schiebt sie in meine Richtung. Amüsiert schüttle ich innerlich den Kopf, während ich gierig nach der glänzenden orangefarbenen Schachtel greife. Sie kennt mich viel zu gut! Wahrscheinlich weiß sie sogar, dass ich direkt vom Fußballtraining in ihr Büro gestürmt bin. Ich bin am Verhungern! Ist mein niedriger Blutzuckerspiegel vielleicht der eigentliche Grund, warum ich jetzt hier sitze?
Egal! Eins beweist sie wieder einmal: Sie ist die beste Direktorin, die ich mir vorstellen kann. Eine Menschenkennerin durch und durch.
Ich atme zufrieden aus, während in meinem Mund der Geschmack von köstlichem Nougat jede einzelne meiner Geschmacksknospen zum Singen bringt.
Als ich meine Augen wieder öffne, sieht mich die Direktorin lächelnd an.
„Besser?“
Ich nicke. Irgendwie schäme ich mich mittlerweile fast dafür, dass ich so in ihr Büro gestürmt bin. Sie hat immer eine offene Tür für die Schülerinnen ihres Internats. Und ja, es hätte definitiv bessere Wege gegeben, ein Gespräch mit ihr zu suchen, als hier einfach so hereinzustürmen.
Das Lächeln auf ihrem Gesicht wird breiter. Verdammt! Wieder habe ich das Gefühl, dass sie meine Gedanken lesen kann. Wie macht sie das bloß?
Allerdings behauptet meine Mutter auch immer, dass ich das ausdrucksstärkste Gesicht habe, dass ihr je untergekommen ist. Es ist ein Fluch! Nichts kann ich geheim halten.
Nach einem weiteren Moment des Schweigens stellt mir Frau van Westerbrock eine weitere Frage: „Was kann ich für Sie tun, Ihre Königliche Hoheit?“
Die Haare in meinem Nacken stellen sich auf.
„Marie!“, sage ich bestimmt. Wie oft ich ihr schon gesagt habe, dass sie mich bitte nicht mit meinem Titel ansprechen soll!
Wieder lächelt sie. Doch diesmal könnte ich ihr dafür an die Gurgel gehen.
„Sie haben versprochen, dass Sie mich wie alle anderen Mädchen hier behandeln!“, klage ich an.
Beatrix van Westerbrock senkt den Kopf in einer Geste, die zwar ausdrückt, dass sie mich gehört und verstanden hat, aber meiner Einschätzung der Situation nicht völlig zustimmt.
Ich seufze. Was würde ich dafür geben, diese Subtilität zu besitzen. Ich bin direkt – bis hin zur Unhöflichkeit. Ein Elefant im Porzellanladen. Selbst die beste Erziehung von Kleinkindesbeinen an hat daran nichts geändert. Nur mein Onkel findet mich erfrischend.
Ich entscheide mich wieder einmal für die Flucht nach vorne. Ihre Geste ignorierend, fahre ich fort: „Ich bin jetzt seit über vier Monaten hier und habe noch immer keine Mitbewohnerin.“
Ein Lächeln umspielt die Lippen der dunkelhaarigen Frau mir gegenüber. Meine Augen werden schmal.
„Du kamst mitten im Semester zu uns“, erklärt sie mit ruhiger Stimme.
Ja! Das weiß ich selber. Komm zum Punkt!
Bevor ich etwas sagen kann, spricht sie weiter: „Wir haben nicht viele Schülerinnen, die so kurzfristig zu uns stoßen.“
Das stimmt auch. Ich hasse es, wenn meine Gesprächspartner so rational sind.
„Wen hätte ich denn zu dir legen sollen? Gwynne vielleicht?“, schlägt sie geduldig vor.
Ich denke an das blonde Mädchen, das kurz nach mir im Internat angefangen hat, und rümpfe meine Nase.
Verdammt! Warum kann ich eine körperliche Reaktion nie unterdrücken?
Ich mag eine waschechte Prinzessin sein. Die Tochter des Königs von Terengien, einem mittelgroßen Inselstaat in der Nordsee. Die Nummer zwei in der Thronfolge.
Doch Gwynne … Gwynne ist ein Prinzesschen im negativsten Sinne des Wortes. Wir zwei in einem Zimmer – das wäre nie gut gegangen. Alleine ihre Haarpflegemittel nehmen ein ganzes Regal ein. Ein ganzes Regal! Nicht einmal meine ausgiebige Sammlung an Fantasyromanen braucht so viel Platz.
Die Direktorin scheint mein Mienenspiel wieder lesen zu können, denn ohne eine Antwort abzuwarten, fragt sie weiter: „Josefine?“
Außer mir und Gwynne ist das stille Mädchen die Einzige, die noch mitten im Schuljahr hierhergekommen ist. Sie ist geradezu schmerzhaft schüchtern. Wahrscheinlich würde ich sie, ohne es zu wollen oder auch nur zu bemerken, ständig unterbuttern. Und selbst wenn ich keine Titel tragen würde, wüsste Josefine höchstwahrscheinlich nicht, wie sie sich wehren sollte. Mit dem Hintergrund, wer ich bin …
Sie ist mit ihrer jetzigen Mitbewohnerin viel besser dran. Monika hat die Geduld und die Liebe dafür, so jemanden aus der Reserve zu locken. Gestern habe ich Josefine sogar einmal lachen gehört. Für ungefähr zwei Sekunden. Bevor sie gemerkt hat, wie laut sie ist, und schnell wieder den Mund zugemacht hat. Es ist eine Schande! Sie hat wirklich ein wunderschönes Lachen.
Ich seufze schon wieder. Es ist offensichtlich, dass auch das nie klappen würde.
Bevor ich allerdings in völlige Verzweiflung stürzen kann, erklärt die Direktorin mit ruhiger Stimme: „Morgen startet ein neues Mädchen: Christine. Als ich sie kennengelernt habe, musste ich gleich an dich denken, Marie.“
Überrascht hebe ich meinen Blick und schaue die Mittfünfzigerin kritisch an. Sagt sie das jetzt nur so, um mich zu beschwichtigen. Oder …
Der Blick der erfahrenen Frau ist jedoch offen und warmherzig.
Ich glaube, sie meint es ernst!
„Danke!“
Glück durchströmt mich. Zum ersten Mal in meinem Leben darf ich mein Zimmer mit jemandem teilen. Vielleicht werden wir beste Freundinnen? Ich kann es kaum erwarten!
Ich schaffe es, meine Freude zu zügeln und mit angemessenen Schritten das Büro der Direktorin zu verlassen. Fast zumindest. Einmal bin ich ein bisschen gehopst. Ganz versehentlich.
Für einen Moment hoffe ich, dass Frau van Westerbrock es nicht gesehen hat. Aber da höre ich ein leises Kichern hintern mir. Ich drehe mich um und will mich entschuldigen. Doch sie sitzt nur da, mit einem Funkeln in den Augen, und zwinkert mir zu.
—
In der Nacht kann ich kaum schlafen, so aufgeregt bin ich. Aber dann passiert erst einmal gar nichts. Kein Auto fährt in der Früh vor. Kein unbekanntes Mädchen sitzt im Unterricht. Kein Getuschel über „die Neue“.
Mittags gibt es immer noch keine Spur von einer neuen Schülerin. Der Tag zieht sich wie Kaugummi. Hat Frau van Westerbrock mich angelogen? Aber was hätte sie davon, mir einen Bären aufzubinden?
Nach dem Fußballtraining am späten Nachmittag stolpere ich müde und verschwitzt durch die Tür in mein Zimmer. Ich war knapp davor, auch heute wieder das Büro der Schulleiterin zu erstürmen. Im Gang habe ich kurz gezögert, bevor ich dann doch die Richtung zu meinem Zimmer eingeschlagen habe. Irgendwie war mir mein Auftritt von gestern doch noch etwas peinlich, also habe ich mich wie ein Hund mit eingezogenem Schwanz zurückgezogen und schmolle jetzt hier.
Frustriert schmeiße ich mich aufs Bett. Heute habe ich mir noch nicht einmal die Zeit genommen, meine Sportsachen auszuziehen, bevor ich in Richtung Internatsgebäude abgerauscht bin. Ich war einfach zu aufgewühlt für Small Talk in der Umkleide.
Wenigstens der Trainer war glücklich. Ich war schon immer gut darin, meine Gefühle in Bewegung umzusetzen. Heute habe ich auf dem Feld wirklich alles gegeben – nur um nicht darüber nachdenken zu müssen, warum meine Mitbewohnerin noch nicht aufgetaucht ist. Warum nicht? Ich warte jetzt schon so lange!
Ein Klopfen unterbricht meine Gedanken. Ich setze mich im Bett auf und versuche, zumindest halbwegs präsentabel auszusehen. Es ist sinnlos! Ich bin vom Sport verschwitzt. Meine Frisur ist durch das Haarband, das ich beim Training trage, zerstört und meine langen roten Haare stehen in alle Richtungen ab.
Ich seufze. Es ist, wie es ist. Außerdem: Hier kennen mich mittlerweile alle. Keiner erwartet Perfektion von mir. Schon gar nicht, was meine Haare betrifft.
„Herein!“, rufe ich, während ich nach einem der Bücher meiner Lieblingsautorin greife, die auf dem Nachtschränkchen liegen. Ein Buch in der Hand ist eine gute Abwehr, wenn wieder einmal einer meiner Fans zum Quatschen vorbeikommt. Ja, ich habe Fans in der Schule. Eigentlich sind sie nicht wirklich Fans von mir, sondern von meiner Familie und den damit verbundenen Möglichkeiten. Es ist so mühsam!
Ich kann auch nicht sagen, dass ich keine Freundinnen hätte. Im Gegenteil. In den letzten Monaten habe ich hier ein paar wirklich coole Mädchen getroffen und wir verstehen uns großartig. Aber sie wissen alle, dass sie mich nach der verpflichtenden täglichen Sporteinheit in Ruhe lassen sollen.
Ich schlage das Buch auf einer zufälligen Seite auf. Die Geschichte von der resoluten Dame, die mit nur einer Berührung übernatürliche Wesen wieder sterblich machen kann und sich in den Chef des lokalen Werwolfrudels verliebt, habe ich so oft gelesen, dass ich das 350 Seiten dicke Buch praktisch auswendig kann.
„So, das ist dann dein Zimmer“, dringt die Stimme von Frau van Westerbrock dumpf an mein Ohr. Mein Kopf schnellt nach oben. Sekunden später biegt die dunkelhaarige Frau um die Ecke. Ihr Blick wandert für einen Moment im Raum umher, bis er auf mir landet. Die Mundwinkel der Direktorin ziehen sich amüsiert nach oben, während sie mich eingehend betrachtet.
Meine Augen gleiten über die vertraute Gestalt und bleiben dann auf der jungen Frau hängen, die neben ihr steht. Ich bin völlig hin und weg.
Fast gleich groß wie die Direktorin und damit wahrscheinlich etwas größer als ich selbst steht sie schlank und elegant neben der älteren Dame. Ein Sonnenstrahl fällt durch das Fenster rechts von mir und bringt ihre hüftlangen, glatten, goldenen Haare zum Strahlen. Dunkelblaue Augen mustern mich mit festem Blick. Volle, rosa glänzende Lippen werden von einem höflichen Lächeln geziert.
Ich bin wie vom Donner gerührt. Die Zeit scheint still zu stehen, bis mich ein Geräusch aus meiner Starre reißt.
Oh nein, mir ist mein Buch aus der Hand gefallen! Schnell bücke ich mich nach unten und greife mit zitternden Händen nach meinem Lieblingsbuch. Dabei bin ich so fahrig, dass ich das Buch beim ersten Versuch nur noch weiter von mir wegstoße. Hitze steigt mir ins Gesicht. Vor mir steht das wundervollste Wesen, das mir je begegnet ist, und ich mache mich hier gerade zum Trottel! Super, Marie!
Ich lasse mich vor dem Bett auf die Knie fallen, um weit genug nach vorne reichen und mein widerspenstiges Buch einfangen zu können. Mein Herz schlägt mir bis zum Hals, als ich den festen Einband endlich an meine Brust drücken kann. Ich hebe meinen Blick vorsichtig.
Christine – ich gehe davon aus, dass sie das Mädchen ist, von dem wir gestern gesprochen haben – mustert mich mit einem offenen Gesichtsausdruck. Sie ist perfekt! Ich bin nie so perfekt. Aber muss ich wirklich total verschwitzt und zerzaust sein, wenn ich die schönste Frau treffe, die ich je gesehen habe?
Die schönste Frau? Ich stocke.
Ja, Christine ist wirklich eine Wucht. Ihre glitzernden Lippen wirken wie eine Einladung.
Halt! Seit wann denke ich, dass die Lippen einer Schulkollegin einladend sind? Ich habe noch nie die Lippen von irgendjemandem als einladend empfunden. Und dabei bin ich quasi verlobt. Mit Neil. Dem Sohn des Chefgärtners. Seit ich denken kann, ist er mein bester Freund. Als ich fünf war, haben wir einmal darüber gestritten, wer zuerst in das Baumhaus klettern darf, das Onkel Leo mit uns gebaut hat. Weil Neil ein Jahr älter ist als ich, hat er mich einfach zur Seite gedrängt und ist die Leiter hinaufgeklettert. Blind vor Wut habe ich ihm hinterhergerufen: „Wenn wir später verheiratet sind, dann gehe ich aber zuerst!“
Neil hielt mitten im Hochsteigen inne, drehte sich auf der Leiter zu mir um und musterte mich kurz. Schließlich zuckte er mit den Schultern und antwortete mit „Okay.“ Schon war meine Laune wieder im grünen Bereich. Daran konnte nicht einmal das schnaubende Lachen etwas ändern, das meine Mutter erfolglos zu unterdrücken versuchte, während sie sich zu den Wurzeln des Baumes bückte und etwas unglaublich faszinierend zu finden schien. Ich habe bis heute nicht verstanden, was so extrem lustig an der ganzen Sache gewesen sein soll.
Völlig in Gedanken versunken knie ich immer noch auf dem Boden und presse das Buch an mich, als ob es mir Halt geben könnte. Da tritt Christine auf mich zu. Ich schaue an ihrem perfekten Körper hoch. Sie trägt die Schuluniform mit der weißen Bluse und der blauen Hose beziehungsweise dem blauen Rock noch nicht. Nein, eine ihr auf den Leib geschneiderte grau-silberfarbene Jeans und ein eng geschnittenes hellgrünes T-Shirt betonen ihre sehr weiblichen Kurven. Mein Atem wird schneller.
Mein Blick fällt auf den BH, der sich klar und deutlich unter dem dünnen Stoff ihres Oberteils abzeichnet. Sogar die feine Spitze, die die Körbchen ziert, ist eindeutig zu erkennen. Christines Brüste wölben sich prall und voll aus den niedrig geschnittenen Schalen heraus. Ich lecke mir über meine plötzlich trocken gewordenen Lippen. Wie würden sich ihre Brüste wohl in meinen Händen anfühlen? Gleich wie meine? Oder ganz anders?
Oh mein Gott! Warum denke ich über den Busen einer anderen Frau nach?
Dann tritt Christine noch näher heran, bleibt knapp vor mir stehen und macht einen kleinen Knicks.
„Ihre Königliche Hoheit!“
Oh, nein! Ganz sicher nicht. Alle Gedanken an Brüste sind wie weggeblasen. Ich springe vom Boden auf, strecke ihr meine rechte Hand entgegen und sage bestimmt: „Marie!“
Ein Lächeln breitet sich auf Christines Gesicht aus. Kein Lächeln, das einfach nur höflich ist. Ein echtes Lächeln. Ein Lächeln, das sie sogar noch engelhafter aussehen lässt. Ich hätte nicht gedacht, dass das möglich ist. Ich habe wirklich noch nie jemand Schöneren getroffen!
Sie nimmt meine Hand und schüttelt sie.
„Christine“, bestätigt sie meine Vermutung endlich.
Ich spüre da ein Kribbeln, wo sich unsere Hände berühren. Komisch! Mein Herz scheint für einen Schlag auszusetzen. Was ist das? Statisch aufgeladenen Luft? Soll ich meine Hand schnell zurückziehen? Aber es fühlt sich nicht wie ein Schlag an. Es ist ein glorreiches Gefühl. Während sich mein Gehirn noch mit der Frage herumschlägt, hat sich mein Körper längst entschieden. Der Handschlag dauert einige Sekunden länger, als eigentlich höflich ist.
Nachdem eine von uns beiden – ich kann nicht sagen, wer – den Handschlag gelöst hat, wandert mein Blick von unseren Fingern zu Christines wunderschönem Gesicht. Ihre Pupillen sind geweitet. Hat sie das seltsame Kribbeln etwa auch gespürt?
„Ich lasse euch beide dann alleine, damit ihr euch in Ruhe näher kennenlernen könnt.“
Bei den Worten zucke ich zusammen, so erschrocken bin ich. Ich hatte vollkommen vergessen, dass Christine und ich nicht alleine im Raum sind. Die Direktorin steht ja noch im Eingangsbereich! Im nächsten Moment ist allerdings schon ein leises Klicken zu hören, als die Tür zu meinem … nein, unserem Zimmer ins Schloss fällt. Jetzt sind wir zwei wirklich alleine.
Ich weiß nicht, was ich jetzt tun soll. Panisch blicke ich mich im großzügigen Raum um. Zum Glück ist er wenigstens halbwegs ordentlich, wenn ich schon das totale Chaos bin.
Ungelenk deute ich auf das Bett, auf dem ich vorher gesessen habe.
„Ich habe mir das Bett beim Fenster ausgesucht, weil ich vor dem Aufstehen gerne ins Grüne schaue. Aber wir können auch tauschen, falls dir dieses Bett lieber wäre …“
Ich merke, dass ich dummes Zeug brabble. Auch das andere Bett steht mehr oder weniger an einem Fenster, nur eben nicht mit der Längs-, sondern mit der Querseite.
Wir haben eines der großen Eckzimmer. Die beiden hölzernen Kleiderschränke sind so neben der Tür angeordnet, dass ein kleiner Gang entsteht. Dadurch haben wir mehr Privatsphäre, weil Besucher erst durch den kleinen Gang gehen müssen, bevor sie unsere Betten sehen können.
Mein Bett und mein Schreibtisch stehen an der Westwand des Gebäudes, die bisher freien an der Südwand. Es ist wirklich ein schönes, helles Zimmer. Selbst ein kleiner Couchtisch mit vier gemütlichen Sesseln hat darin noch Platz.
Christine schaut mich mit geweiteten Augen an. Ich versuche langsam ein- und auszuatmen und meine Fassung wiederzuerlangen.
„Nein, nein, Ihre Königliche … Marie“, sie wird ein bisschen rot. Oh mein Gott, sie ist so süß! Wieder wandert mein Blick zu ihren Lippen. Ob sie wohl genauso sanft sind, wie sie aussehen?
Ich schüttle den Kopf, um diese Gedanken zu vertreiben. Warum bin ich von ihren Lippen so besessen? Ich merke, dass jetzt auch mir die Hitze ins Gesicht steigt. Gott sei Dank gibt es keine Gedankenleser – wenn man von Direktorin van Westerbrock einmal absieht. Ich fürchte, ich müsste sonst im Erdboden versinken.
Da fällt mein Blick auf meine dreckigen Turnschuhe, die ich vorhin einfach mitten im Raum abgestreift habe. Mir wird gleichzeitig heiß und kalt, als mir einfällt, wie ich gerade aussehe. Verdammt! Ich treffe meine Traumfrau und schaue aus wie durch den Fleischwolf gedreht.
Meine Traumfrau? Oh mein Gott! Was ist mit mir los? Ich muss hier raus!
„Ich sollte dann wohl ins Bad gehen und mich frisch machen …“, murmle ich peinlich berührt. Dabei drehe ich mich schon auf dem Absatz um und verschwinde mit schnellen Schritten hinter den schützenden Kleiderschränken.
Atemlos betrete ich unser privates Badezimmer. Als ich die weiße Standardtür hinter mir verschlossen habe, lasse ich mich in dem verfliesten Raum mitten auf den Boden sinken. Dabei fällt mir auf, dass ich noch immer mein Lieblingsbuch wie ein Kuscheltier an meine Brust gedrückt halte. Verdammt! Könnte ich noch etwas peinlicher sein?
Ich stöhne laut und lege mich mitten in dem kleinen Raum auf den Boden. Im nächsten Moment zucke ich zusammen. Hat Christine mich gerade gehört? Die Peinlichkeiten nehmen heute überhaupt kein Ende! Das gibt es ja nicht. Okay, ich bin an meinen besten Tagen nicht perfekt – bei weitem nicht –, aber heute … Heute überspringe ich alle Messlatten mit Leichtigkeit.
Ich nehme das Buch von meiner Brust und schaue auf die groß abgebildete Heldin in dem dunkelvioletten viktorianischen Kleid auf dem Buchumschlag. Sie ist auch jemand, der nicht gerade Fingerspitzengefühl besitzt. Ganz und gar nicht. Sie ist oft wie eine Dampfwalze. Trotzdem verliebt sich der Werwolf in sie. Oder gerade deswegen? Weil er endlich jemanden gefunden hat, der sich nicht alles sagen lässt?
Ich schüttle den Kopf. Christine ist kein Werwolf. Im Gegenteil. Sie scheint eine sehr wohlerzogene junge Dame zu sein, wenn mich mein erster Eindruck nicht täuscht. Und das tut er sehr selten.
Puh, mich verwirren all diese Gedanken. Wieso teile ich Christine jetzt die Rolle des Helden in einem Fantasyroman zu? Und wer wäre ich denn darin? Die viktorianische Dampfwalze?
Seufzend setze ich mich auf. Meine Gedanken machen heute überhaupt keinen Sinn. Nicht einmal für mich selbst!
Noch einmal werfe ich einen Blick auf das Cover, doch leider kann es das Geheimnis um meine verworrenen Überlegungen auch nicht lösen.
Dann lege ich das Buch vorsichtig beiseite, sodass es nicht nass werden kann, wenn ich gleich unter die Dusche hüpfe. Auch wenn das gute Stück im Moment nicht der Schlüssel zu meinen Gedanken ist, so ist es doch eines meiner wertvollsten Besitztümer. Nicht monetär. Alleine die Strümpfe meiner Schuluniform sind wahrscheinlich teurer als das Taschenbuch – obwohl es eine persönliche Widmung der Autorin enthält.
Onkel Leo ist mit mir extra nach San Diego zur Comic Con geflogen, nur damit ich mir das Autogramm holen konnte. Diese Tage werde ich nie vergessen. Sie waren wie ein wahr gewordener Traum.
Da es üblich ist, dort kostümiert zu erscheinen, hatten mein Onkel und ich einen Plan ausgeheckt. Wir brauchten ein Gruppenkostüm für uns und unsere Bodyguards. Und zwar eines, bei dem unsere Gesichter zumindest zum Teil verdeckt waren, damit uns niemand erkennen würde.
Nach einigem Hin und Her fiel die Wahl auf den bösen Imperator aus Star Wars und seine Prätorianer Garde – nicht zuletzt, weil sie alle Vollvisiermasken trugen. Der Chef unserer Security war von der Idee, dass er als Imperator plötzlich im Mittelpunkt stehen sollte, zuerst überhaupt nicht begeistert. Er hatte seinen Beruf doch gewählt und Karriere gemacht, damit er möglichst im Hintergrund bleiben konnte. Während der Messe fand er aber sichtlich mehr und mehr Gefallen daran. Nachdem wir ihm folgen mussten, gab es keine ungeplanten Stopps, keine Überraschungen. Insgeheim glaube ich, dass das für ihn der beste Einsatz war, den er je hatte.
Da so viele Menschen in den spannendsten Verkleidungen vor Ort waren, fielen wir überhaupt nicht auf. Drei Tage war ich völlig frei!
Das warme Wasser der Dusche erfrischt mich. Und nach einigen Minuten wird es auch in meinem Kopf wieder ruhiger und klarer. Eine gute Viertelstunde später trete ich sauber und fest entschlossen aus dem Badezimmer: Christine und ich werden gute Freundinnen werden. Die besten! Ich werde alles dafür tun.