Frierend ziehe ich meinen dunkelroten Strickschal noch etwas höher, sodass jetzt auch meine Nasenspitze unter der kuscheligen Wolle verschwindet. Verlockender Kaffeegeruch steigt in meine Nase. Das kommt davon, wenn man seine Kleidungsstücke den ganzen Tag im Lehrerzimmer liegen lässt.
Ein zufriedenes Grinsen zieht sich über meine Lippen. Ich liebe meinen Job! So anstrengend die Jugendlichen auch sein mögen, ich könnte mir nichts Schöneres vorstellen, als ihnen dabei zu helfen, ihre schlauen Köpfe um neue, herausfordernde Konzepte herumzuwickeln. Vor allem in meinem Lieblingsfach Mathematik.
Auch die Kollegen sind ein Hit. Beispiel A: dieser wunderschöne rote Schal, der mich gerade vor dem sicheren Erfrierungstod rettet. Eine ältere Kollegin, die in ihrer Freizeit nichts lieber macht, als die Stricknadeln zu schwingen, hat ihn mir zu Weihnachten geschenkt.
Während ich mir vorstelle, wie sie zu Hause in einem geblümten Ohrensessel sitzt und strickt, versucht ein kalter Windstoß mir das geliebte Stück zu entreißen. Ich grummle unwirsch vor mich hin. Eigentlich mag ich den Winter ja. Eigentlich! Auf jeden Fall lieber als den Sommer – viel zu heiß. Dafür bin ich gar nicht gemacht. Ich liebe den Schnee, die Weihnachtszeit mit all ihren Lichtern und Liedern, Skifahren, Eislaufen, das Gefühl von erfrischender Kälte auf den Wangen, wenn ich vor die Tür trete.
Aber …
Aber es gibt erfrischende Kälte und diesen unsäglichen, unerträglichen, eisigen Wind, der so gerne in Wien Einzug hält. Und ich kann nicht umhin zu gestehen, dass der Januar immer eine etwas trostlose Zeit ist. Weihnachten ist vorbei. Das Wetter ist meist hundsmiserabel. In der Stadt haben wir nur selten Schnee und es ist einfach nur kalt.
Schnell überwinde ich die letzten Schritte zu dem großen blauen Gründerzeithaus, in dem ich aufgewachsen bin. Wie von selbst wandern meine Augen nach oben zu dem Eckzimmer im ersten Stock. Während die Wohnung meiner Eltern auf den Innenhof hinausging und damit die Fenster von der Straße aus nicht sichtbar sind, bewohnt die Familie meines besten Freundes das gesamte erste Stockwerk dieses Hauses. Michael nannte dieses Eckzimmer sein Eigen.
Nicht dass einer von uns beiden noch hier wohnen würde. Wir sind schließlich längst erwachsen und ausgezogen. Aber Michaels Eltern leben noch immer in dieser Wohnung. Meine Eltern hingegen sind vor ein paar Jahren aufs Land gezogen. Sie wollten im Alter etwas mehr Ruhe haben. Dieser Gedanke lässt mich fast noch mehr erzittern als der kalte Wind. So herrlich es ist, meine Eltern am Wochenende in ihrem circa eine Stunde von Wien entfernten Häuschen mit dem freien Blick auf die weiten Felder zu besuchen, so könnte ich mir selbst nicht vorstellen, aus der Stadt fortzuziehen.
Und warum ist das so?
So schnell wie möglich dränge ich diesen Gedanken zur Seite. Mein Unterbewusstsein versucht in letzter Zeit immer häufiger mich dazu zu zwingen, gewissen Wahrheiten ins Auge zu sehen. Allerdings hat es die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Ich bin über die Jahre ein Meister der Verdrängung geworden.
Triumphierend drücke ich die vertraute Klingel und warte nur kurz, bis mir das Surren der Tür den Weg freigibt. Ich laufe die breiten Stufen hinauf, zwei auf einmal nehmend. Manche Gewohnheiten sind einfach schwer abzuschütteln.
Michael und mir war es immer viel zu langweilig, jede einzelne der niedrigen Stufen zu steigen. Sobald unsere Beine auch nur annähernd lang genug waren, dass wir zwei auf einmal nehmen konnten, haben wir das getan – und nie wieder damit aufgehört. Zumindest ich nicht. Ich habe keine Ahnung, wie Michael diese Stufen hinaufsteigt. Seit meine Eltern von hier weggezogen sind, bin ich nur selten in diesem Haus.
Ich überlege für einen Moment, ob mich das stört. Ist es komisch, dass jetzt ganz andere Menschen in der Wohnung wohnen, in der ich aufgewachsen bin? Eigentlich nicht.
Da wird vor mir auch schon die weiße Doppelflügeltür aufgerissen und der Mann, der meistens meine Gedanken dominiert, steht vor mir. Er grinst mich an.
Michael ist einer der attraktivsten Menschen, die ich kenne. Gut einen Kopf größer als ich und gertenschlank. Seine blaugrünen Augen funkeln mich frech an. Dieser Eindruck wird von seinen wilden hellbraunen Locken noch verstärkt. Deswegen habe ich ihn schon als Kind immer als meinen Wuschel bezeichnet. Ein Spitzname, der ihm bis heute geblieben ist.
Und der einzige Weg, wie ich mir selber erlaube, ihn mit einem besitzanzeigenden Fürwort zu versehen.
Okay, das stimmt nicht ganz. Er ist auch mein bester Freund!
Aber in Wirklichkeit lenken diese beiden „mein“ nur davon ab, dass ich dieses unscheinbare Wort nicht vor andere Wörter setzen darf – wo ich sie aber zu gerne nutzen würde. Wie zum Beispiel vor seinem Namen. Oder vor dem ebenfalls recht unscheinbaren Wort Mann. Mein Mann.
Ich versuche, meinen Blick höflich auf seinem Gesicht ruhen zu lassen, aber Michael macht es mir verdammt schwer. Ein eng anliegendes, dunkelblau schimmerndes Hemd unterstreicht seine schlanke Figur. Die beigefarbene Hose sieht aus, als ob jemand sie ihm auf den Leib geschneidert hätte. Sie betont genau die richtigen Stellen.
Verdammt!
Warum muss er nur so verdammt sexy sein?
Und so verdammt hetero noch dazu?
Ja, ich bin ein wandelndes Klischee.
Verliebt in den besten Freund.
Seit Kindheitstagen.
Nur kann nie etwas aus uns werden.
Ein Gedanke, mit dem ich mich anfreunden musste, als Michael mir mit knappen 15 Jahren seine erste Freundin vorgestellt hat. Er steht nicht auf Männer. Im Gegensatz zu mir.
„Du bist spät dran!“, gebärdet meine heimliche große Liebe mit gespielt genervtem Blick. Michael wurde gehörlos geboren. Für seine Eltern war das ein ziemlicher Schock. Ich kann ihn mir gar nicht anders vorstellen. Er ist perfekt, so wie er ist.
Wir haben gemeinsam in der Sandkiste im Innenhof dieses wunderbaren Hauses gespielt. Dort habe ich auch die Gebärdensprache aufgeschnappt. So wie Kinder eben nebenbei Dinge aufschnappen. Ich wünschte, das Erlernen einer neuen Sprache würde mir heute noch so leichtfallen. Aber seit ich dem Sandkasten entwachsen bin, liegen meine Talente eher im mathematischen als im sprachlichen Bereich.
„Gab es schon Kuchen?“, frage ich so eindringlich, als ob die Antwort das wäre, was mich tief in meinem Inneren beschäftigt – und nicht mein bester Freund. Sicher nicht.
„Natürlich nicht!“
Michael wirkt so entrüstet, als ob er nie im Leben eine Torte anrühren würde, wenn ich nicht dabei bin. Wobei … So falsch ist der Gedanke gar nicht. Während ich total auf Süßes stehe und mich von den ganzen herrlichen Mehlspeisen, die einem in Wien an jeder Ecke auflauern, ernähren könnte, ist Michael jemand, der Herzhaftes bevorzugt.
Noch so ein feiner Unterschied zwischen uns.
„Wo bleibt ihr denn?“, schallt eine Stimme aus dem Wohnzimmer. Ich muss lächeln. Offensichtlich ist Michaels Mutter genauso begierig darauf, die Torte anzuschneiden, wie ich es bin.
Mit großen Schritten trete ich in die Wohnung, werde meine Wintermontur im Vorraum los und sause eilig in die gute Stube. Alles sieht so aus, als hätten sie wirklich nur noch auf mich gewartet. Die Geburtstagstorte steht schon auf dem Tisch. Allerdings sind die Kerzen noch nicht angezündet.
Mhmm, Sachertorte!
Rund herum sitzen Michaels Eltern und die eigentliche Hauptperson des heutigen Tages: Linus. Michaels älterer Bruder wir heute 40 Jahre alt. Zum Glück stört ihn meine Unpünktlichkeit nicht im Geringsten. Zufrieden strahlt er den Mann an, der neben ihm sitzt.
Karl ist letzten Sommer völlig überraschend in unser Leben geschneit. Na ja, zumindest für mich völlig überraschend. Linus und Karl waren im selben Internat und bereits damals bis über beide Ohren ineinander verliebt. Leider haben es die beiden nicht auf die Reihe bekommen und haben selbst im letzten Sommer, als sie sich nach Jahren wiedergetroffen haben, zunächst so getan, als hätten sie nur etwas Spaß miteinander.
Ich rolle innerlich mit den Augen. Was für ein Drama das war! Die beiden sind einfach perfekt füreinander. Wie man nur so kompliziert sein kann, ist mir ein Rätsel. Aber die Hauptsache ist, dass sie jetzt glücklich sind.
Michael beobachtet mich genau, während ich zuerst seine Eltern und dann Karl und Linus begrüße. Seine Augen werden schmal, als ich seinen Bruder umarme.
Ich tue mal wieder so, als ob ich das nicht bemerken würde. Mein bester Freund und Linus glauben, dass ich zu den Menschen gehöre, die nicht wirklich mitkriegen, was um sie herum läuft. Leider stimmt das ganz und gar nicht. Es ist oft nur zu schmerzhaft. Irgendwann habe ich angefangen, so zu tun, als wüsste ich nicht, was los ist, und bin dann dabeigeblieben.
Sebastian sieht wie immer fantastisch aus. Seine schulterlangen blonden Haare sind im Nacken mit einem Haarband zusammengefasst. Einem Nacken, der mich bis in meine Träume verfolgt. Seine zarte Haut ist eine Versuchung sondergleichen. Der verlockende Übergang zu den leicht abfallenden, breiten Schultern, den ich zu gerne einmal anknabbern würde, ist heute allerdings unter dem Kragen seines schwarzen Hemdes versteckt. Eine glänzende schwarze Krawatte und eine schwarze Stoffhose runden das Ensemble ab.
Ich muss meine Hände in meine Hosentaschen stecken, um sie nicht nach ihm auszustrecken. Das Outfit unterstreicht seine dunklen Augen. Die blonden Haare und seine von der Kälte geröteten Wangen geben einen perfekten Kontrast ab. Er sieht wirklich zum Anbeißen aus.
Es ist selten, dass mein bester Freund so formell gekleidet ist. Normalerweise ist er mehr der „Jeans und T-Shirt mit lustigen Sprüchen drauf“-Typ. Aber heute hat er sich für die Geburtstagsfeier meines Bruders in Schale geworfen. Ich kann mich nur wiederholen: Er sieht zum Anknabbern aus.
Während Sebastian meinen Bruder umarmt, kann ich meinen Blick nicht abwenden. Zum Glück ist es mehr eine dieser typisch männlichen Begrüßungsgesten mit Rückengeklopfe und meilenweit voneinander entfernten Becken. Trotzdem kann ich die Eifersucht kaum in Zaum halten.
Vor ein paar Monaten habe ich die beiden in flagranti erwischt. Ich wusste schon davor, dass Linus und Michael sich ab und zu das Bett teilen. Keiner von beiden hat je ein Geheimnis daraus gemacht.
Nein, mein Bruder hat mich sogar gefragt, ob das okay für mich sei. Aber ganz ehrlich: Was antwortet man auf so eine Frage? Nein, du darfst nicht mit meinem besten Freund schlafen, auch wenn ich ihn selbst so nicht will?
Okay, das ist eine Lüge. Mir war schon als Teenager klar, dass ich bi bin. Aber dann hatte Linus sein Coming-out und so blöd es klingt, von da an hatte ich irgendwie das Gefühl, dass Männer Linus’ Sache sind und Frauen meine. Ich habe quasi die Hälfte der Weltbevölkerung meinem Bruder zugesprochen und mir selbst die andere Hälfte zugestanden.
Und was ist mit Intersex- oder non-binären Menschen?, mischt sich mein Unterbewusstsein wieder ein.
Schon gut, schon gut. Darf ich nicht einmal in meinem eigenen Kopf etwas übertreiben?
Worauf ich eigentlich hinauswollte: Ich habe diese Gefühle für Männer noch nie ausgelebt. Habe ich dadurch etwas verpasst? Vielleicht. Aber eines weiß ich ganz genau: Ich habe keine Ahnung, wie ich es jetzt tun soll. Oder ob ich es überhaupt will. Wäre es anders, mit einem Mann zu flirten?
Ich habe versucht, meinen Bruder zu beobachten, aber der hat sich dermaßen tollpatschig in seinem Liebesleben angestellt, dass ich ihm schließlich helfen musste. … Wobei er das wahrscheinlich nicht so ausdrücken würde. Seine Worte gingen eher in die Richtung, dass ich sein Herz blank für alle sichtbar vor die Füße seines Angebeteten gelegt hätte. Ich zucke innerlich mit den Schultern. Ganz unrecht hat er damit nicht. Fingerspitzengefühl war noch nie meine Stärke. Aber es hat gewirkt.
Ich schiele zu meinem Bruder hinüber, der gerade seiner großen Liebe einen sanften Kuss auf die Wange gibt. Wieder durchzuckt mich Eifersucht.
Nein, ich bin nicht an dem zukünftigen Mann meines Bruders interessiert. Nicht im Geringsten. Karl wäre viel zu intensiv für mich. Allein dieser Blick. Ich muss ein sichtbares Schaudern unterdrücken.
Aber ich muss zugeben, dass ich eifersüchtig auf das bin, was die beiden miteinander haben. Die Liebe, die da zwischen ihnen ist, ist beinahe mit den Händen greifbar. Wie sehr würde ich mir wünschen, dass ich das auch für jemanden empfinden könnte.
Aber da ist doch jemand, meint mein Unterbewusstsein.
Dass mein Blick automatisch zu Sebastian schweift, kann ich nicht verhindern. Ich muss schlucken, während ich beobachte, wie seine vollen Lippen Worte formen.
Ich habe keine Ahnung, wann sich meine Gefühle für ihn geändert haben. Wir waren beste Freunde von Kleinkindesbeinen an. Alles war wie immer, bis ich im letzten Mai eines Tages in der Früh die Wohnung meines Bruders betreten habe. So wie eigentlich jeden Tag. Und wie so oft war da wieder einmal ein Mann in seinem Bett. Nur diesmal war es Sebastian.
Ich war wie vom Donner gerührt.
Hat dieser Moment alles verändert?
Ja und nein.
Ich glaube, ich hatte schon einige Zeit vorher angefangen, Sebastian mit anderen Augen zu sehen. Aber der Moment, als er – nur mit einem überlangen T-Shirt bekleidet – aus dem Schlafzimmer meines Bruders stolperte, hat mich gezwungen, der Wahrheit ins Auge zu blicken.
Ich bin in Sebastian verliebt.
Und ich habe keine Ahnung, was ich machen soll.