KAPITEL 1

Kilian

Schlecht gelaunt stehe ich im weit geöffneten Torbogen des wundervollen alten Palais, in dem sich die Botschaft von Terengien befindet. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal so dermaßen übel drauf war. Aber es ist einfach ein Scheißtag heute!

Frustriert wandert mein Blick über die beiden beinahe lebensgroßen, halb nackten Statuen, die den Eingang säumen. Nicht einmal sie können meine Stimmung aufhellen.

Unwillkürlich schüttle ich den Kopf. Es hat mich immer schon verwundert, warum Architekten früher der Meinung waren, dass es eine gute Idee ist, Darstellungen von nackten Menschen in Häuserfassaden zu integrieren. Aber bei dermaßen gut gebauten Männern kann ich mich eigentlich nicht beschweren. Und normalerweise verschafft mir der Anblick unserer beiden Wächter auch gute Laune. Nur heute nicht. Heute hilft gar nichts.

Ein starker Wind weht in Richtung des Innenhofs. Als er mich eiskalt an der Wange streift, erschaudere ich. Verdammt! Warum muss es ausgerechnet heute so kalt sein. Ok, es ist Dezember. Aber trotzdem. 

Ich ziehe mein Jackett enger um mich. Den Mantel habe ich in meinem Büro hängen lassen. Ich dachte, dass die kalte Luft mir guttun würde. Aber Pustekuchen! Vielleicht hole ich mir so den Tod. Aber dann bräuchte ich mich mit dem Rest nicht mehr herumschlagen. 

Jetzt reiß dich aber zusammen – fahre ich mich selbst in Gedanken an. So schlimm ist das Ganze nun auch wieder nicht!

Um mich von meinen morbiden Gedanken abzulenken, blicke ich konzentriert die gepflasterte Straße hinauf. Es kann sich nur noch um Sekunden handeln. 

Zitternd hüpfe ich von einem Fuß auf den anderen. Leider kann ich nicht verhindern, dass meine Gedanken wieder zu dem Brief wandern, der gestern so überraschend auf meinem Schreibtisch gelandet ist. 

Eigentlich hätte er mich nicht überraschen sollen. Es war damit zu rechnen. Es ist quasi Teil der Jobbeschreibung. Aber ich habe mich in den letzten Jahren so an diese Stadt gewöhnt und sie schließlich sogar lieben gelernt, dass ich diesen Teil meiner Arbeit einfach verdrängt habe. 

Endlich fährt die große, schwarze Mercedes-Limousine mit dem Diplomatenkennzeichen die altehrwürdige Straße herunter. Schon von Weitem erkenne ich die kleinen terengischen Fahnen vorne auf der Motorhaube. Der schmalere rote Querstreifen der Flagge fällt mir sofort ins Auge, während der dunkelblaue Hintergrund in dem leichten Nebel, der über der Stadt liegt, nur schwer zu erkennen ist. Das gelbe Wappen darauf erstrahlt aber umso mehr. Diese Flaggen sagen es ganz deutlich: Es ist ein offizieller Staatsbesuch. 

Trotz meiner schlechten Laune steigt Stolz in mir auf. Ich kann es fast nicht glauben, dass ich es geschafft habe. Seit mehr als zwei Jahren bin ich jetzt in Wien der stellvertretende Botschafter meines kleinen Heimatlandes. 

Es ist schon ein paar Monate her, seit ich das letzte Mal zu Hause war. Eine Welle von Heimweh schwappt über mich, als ich an die sanften Hügel und wilden Steilküsten des mittelgroßen Inselstaats in der Nordsee denke, der mein Heimatland ist. 

Es ist fast so, als ob der Wiener Wind bei dem Gedanken an Terengien plötzlich eine Brise Meeresluft heranwehen würde. Sofort steigen in mir Bilder von lauen Abenden in der kleinen Hütte am Strand auf, die meine Eltern im Sommer immer für ein paar Wochen gemietet haben. Meist hat es sich abends so stark abgekühlt, dass wir ein Lagerfeuer entzündet haben und Papa mir dann stundenlang Geschichten erzählt hat, während Mama daneben saß, gestrickt hat und über Papas absolut unglaubliche Geschichten den Kopf geschüttelt hat. Wir hatten dort jedes Mal eine wunderbare Zeit.

Das Quietschen der Bremsen des Botschaftswagens ahmt beinahe die Schreie der Möwen nach. Ich bilde mir ein, dass das wegen des Nebels etwas fahle Licht die über dem Meer hereinbrechende Dämmerung ankündigt.

Ach!

Zum ersten Mal an diesen Tag kehrt etwas Ruhe in meine Gedanken ein. Ich versuche mit aller Kraft, mich daran festzuklammern. Lachen und die Stimmen meiner Eltern hüllen mich ein.

Als das Leben noch einfach war …

Gestern Abend habe ich mit meiner Mutter telefoniert. Den Brief konnte ich dabei noch nicht erwähnen. Stattdessen haben wir über das Wetter geredet. Über was beschwert man sich denn auch sonst im Winter? Wenigstens ist es in Terengien im Moment genauso unfreundlich kalt wie hier in Wien.

Der Wagen, den ich während meines kleinen geistigen Ausfluges keine Sekunde aus den Augen gelassen habe, bleibt vor dem Eingang zur Botschaft stehen. Martin, unser Fahrer, zwinkert mir aufmunternd zu. Der weißhaarige Mann um die Sechzig arbeitet schon seit Jahrzehnten für die Botschaft und ist fast so etwas wie ein Ersatzvater für uns alle. Er weiß genau, dass mit mir gerade etwas nicht stimmt, auch wenn er nicht weiß, was es ist. 

Schon den ganzen Tag hat er versucht, mich aufzumuntern. Zuerst brachte er mir mein Lieblingsgebäck: Powidltascherln. Diese kleinen, mit Zwetschgenmus gefüllten Blätterteigtaschen sind ein kleines Stück fruchtiger Himmel, von dem ich nicht genug bekommen kann, seit ich sie vor beinahe zwei Jahren das erste Mal auf einem Empfang in der Botschaft gekostet habe. Ich habe dabei so laut gestöhnt, dass die Frau des chinesischen Botschafters, die zufällig in meiner Nähe stand, gekichert hat.

Aber Martin war mit seiner Mission, mich aufzumuntern, noch nicht fertig. Er sorgte dafür, dass meine Lieblingsmusik lief, bevor er sich auf den Weg zum Flughafen machte. Mein Herz zieht sich bei dem Gedanken daran, auch ihn bald zurücklassen zu müssen, schmerzhaft zusammen.

Martin steigt aus und will gerade die Fahrzeugtür unseres Gastes öffnen, als dieser von innen die Tür aufschubst und den freundlichen, älteren Herren beinahe niederstreckt. 

Mein Herz rutscht mir in die Hose. Nach einer ersten Schrecksekunde eile ich mit schnellen Schritten auf den Wagen zu. Doch Martin winkt mit einer beruhigenden Geste ab. Nichts passiert! Gott sei Dank! Das hätte mir am heutigen Tag gerade noch gefehlt.

In der geöffneten Wagentür sehe ich einen jungen Mann mit halblangen hellbraunen Haaren und hochrotem Kopf. Ein paar gestammelte Worte der Entschuldigung erreichen mein Ohr, bevor der Rest des Satzes vom scharfen Wind davongeblasen wird.

Paul

Ich bin in Wien. Ich kann es immer noch nicht fassen!

Seit Jahren wünsche ich mir, einmal in der Vorweihnachtszeit hierher zu kommen. Und jetzt bin ich sogar Teil eines offiziellen Staatsbesuchs. 

Verrückte Geschichte!

Doch bevor ich weiter darüber nachdenken kann, erschlage ich mit meiner Autotür beinahe meinen Fahrer. Oh mein Gott! 

Nach einer Schrecksekunde fängt der überaus höfliche und zuvorkommende Mann geschickt die viel zu schwungvoll geöffnete Tür auf. Nichts passiert. Erleichterung breitet sich in mir aus. 

Ich stammle eine Entschuldigung nach der anderen. Noch nie in meinem Leben hat irgendjemand für mich eine Autotür geöffnet. Ich habe also beim besten Willen nicht damit gerechnet. 

Eine Bewegung hinter dem Fahrer lässt meinen Blick zu dem imposanten Gebäude wandern. Je zwei weiße Säulen befinden sich rechts und links von dem weit geöffneten Eingangstor. Die inneren Säulen werden von beinahe lebensgroßen, weißen, halb nackten Männerstatuen unterbrochen, die den darüber gesetzten halbrunden Vorbau auf ihren Schultern tragen. Die gelb gestrichene Fassade ist von weißen, stark verzierten Säulen unterbrochen und auch die Fenster sind von weißen Rahmen mit Stuckaturen und Wappen umgeben. Es ist einfach unglaublich!

Die Bewegung, die ich wahrgenommen habe, ist eine Person, die sich aus dem Schatten des runden Torbogens des Gebäudes vor mir gelöst hat. Als sie in die fahle Wintersonne tritt, spüre ich, wie irgendetwas mit mir geschieht. So etwas habe ich noch nie zuvor gespürt.

Träume ich?

Ich stehe meinem Traummann gegenüber! 

Während ich gerade knapp 1,70 Meter messe – mit Schuhen –, steht mir ein wahrer Hüne gegenüber. Militärisch kurz geschorene dunkle Haare, glattrasiert und ja – erfrischend blaue Augen. Mit offenem Mund erstarre ich mitten in meiner Bewegung – mit einem Bein noch im Auto, halb gebückt – und lasse die Erscheinung vor mir keinen Sekundenbruchteil aus den Augen.

Mein Gegenüber scheint mein seltsames Verhalten nicht zu stören. Vielleicht ist meine Reaktion darauf, diesem Mann zum ersten Mal zu begegnen, nach außen auch eine ganz normale. Vielleicht reagieren alle Menschen so, wenn sie das erste Mal dieses perfekte Exemplar eines Mannes zu sehen bekommen.

„Kilian Henderson.“

Der großgewachsene Mann schüttelt meine Hand. Ich brauche einen Moment, bis ich verstehe, dass die Silben, die gerade an mein Ohr dringen, der Name meines Gegenübers sind.

Ich versuche, wie ein normaler Mensch mit meinem eigenen Namen darauf zu antworten. Leider verschlucke ich bei dem Versuch beinahe meine eigene Zunge.

„P-P-Paul“, stammle ich schließlich doch heraus. 

Oh mein Gott, das ist so peinlich! Jetzt bin ich nicht einmal mehr in der Lage, meinen eigenen Namen ohne zu stottern auszusprechen.

Ein gütiges Lächeln zieht sich über die Lippen des Sexgotts mir gegenüber. Das passt mir gar nicht. Überhaupt nicht! Nein, er soll mich nicht gütig ansehen. Er soll mir die Kleider vom Leib reißen und mich …

Ein hupendes Auto reißt mich aus meinen Gedanken. 

Verdammt noch mal! Was war das gerade? Ich stehe immer noch halb im, halb außerhalb des Autos, halte mit meiner Hand die Hand des anderen Mannes umklammert und habe Sexfantasien?

Was um Himmels Willen machen die hier in ihr Wasser? Nicht, dass ich schon etwas getrunken hätte, seit ich gelandet bin, und ich bin mir ziemlich sicher, dass das Mineralwasser, das ich im Flugzeug getrunken habe, von einwandfreier Qualität war, aber … Warum denke ich jetzt plötzlich über Wasserqualität nach? Reiß dich zusammen, Paul!

Ich sollte die Hand von … Kilian … Der Name war doch Kilian, oder? Normalerweise habe ich ein ausgezeichnetes Namensgedächtnis. Das gibt es doch nicht! Ok, ich bleibe bei Kilian. Hoffentlich blamiere ich mich bei KI-LI-AN damit nicht bis auf die Knochen!

Endlich schaffe ich es, meine Muskeln zu bewegen. Das gelingt mir nur bedingt, denn ich lasse die Hand meines Gegenübers wie eine heiße Kartoffel fallen. Dann stelle ich mich aufrecht hin und versuche, tief durchzuatmen. Ein Windstoß treibt mir meine etwas zu langen Haare vor die Augen und versperrt mir die Sicht.

Ja, heute bin ich großartig darin, keinen guten ersten Eindruck zu machen!

Lust auf mehr?