KAPITEL 1

Wiedersehen macht Freude

Jonathan

Ein Lächeln breitet sich auf meinem Gesicht aus.

Yes!

Die leise Tangomusik wird beinahe vom lauten Klappern des Geschirrs übertönt. Aber das macht nichts. Denn diese Musik sagt mir eines klar und deutlich: Meine Lieblingskellnerin Susan hat heute Dienst. Doch ich hebe meinen Blick nicht vom Bildschirm meines Laptops. Meine Finger fliegen hastig über die Tastatur, während ich meinen Gedanken zu Ende bringe. 

Das Grinsen auf meinen Lippen wird breiter, als ich das Ergebnis zufrieden betrachte. Ich habe in den letzten Tagen das neue Playstation-Spiel zu den Olympischen Spielen ausführlich getestet und gerade meine Eindrücke zusammengefasst. Noch einmal lasse ich meine Augen über die letzten Zeilen des Textes gleiten und nicke. Ja, das passt.

Mit dem genugtuenden Gefühl, etwas abgeschlossen zu haben, wird mir auf einmal wieder der herrliche Geruch, der mich hier in meinem Lieblingscafé umhüllt, bewusst. Eine Mischung aus dem Lebenselixier Kaffee und herrlicher dunkler Schokolade. Und jetzt auch noch frische Frühlingsblumen.

Ja!

Als ich den Kopf hebe, steht sie auch schon vor mir. Verspielt lächelnd stellt die junge Frau mit den langen dunklen Haaren einen herrlich schaumigen Cappuccino vor mir ab.

„Danke, Susan!“, sage ich und kuschle mich zufrieden noch etwas tiefer in den weichen, mit rotem Samt bezogenen Sessel, in dem ich gerade sitze.

„Du sahst so aus, als könntest du noch einen brauchen“, meint sie mit einem frechen Funkeln in den Augen. 

„Mehr Kaffee?“, frage ich gespielt unschuldig. 

Wir schauen uns einen Moment an.

„Immer!“, beantworte ich dann meine eigene Frage.

Susan lacht auf und will gerade etwas sagen – sicher um mich weiter aufzuziehen –, als ein ungeduldiger Gast zwei Tische weiter mit einer ausladenden Geste auf sich aufmerksam macht. Sie zuckt entschuldigend mit den Schultern und wendet sich von mir ab. 

Ich bin nicht traurig, dass die zierliche Frau keine Zeit zum Plaudern hat. So gerne ich Susan mag, ich schwebe gerade in dem leicht euphorischen Hoch, das mich immer erfasst, wenn ich es schaffe, einen meiner Texte so zu Ende zu bringen, dass ich glücklich damit bin. 

Zufrieden führe ich die – wie könnte es in diesem Café anders sein? – rote Tasse zu meinen Lippen und nehme einen ersten Schluck. Die cremig aufgeschlagene Milch kitzelt vielversprechend an meinen Lippen, als …

Verdammt! Ist das heiß!

Fast hätte ich mir den Mund verbrannt. Das gibts doch nicht! Ich bin jetzt fast 30 Jahre alt. Weiß ich immer noch nicht, dass frisch gebrühter Kaffee heiß ist?! 

Hastig stelle ich die Tasse wieder auf dem kleinen Tisch vor mir ab. Dabei schwappt etwas von der hellbraunen Flüssigkeit auf die rote Untertasse. Voller Abscheu betrachte ich erst die kleine Pfütze, dann die Tasse selbst, als ob das arme Ding etwas dafürkönnte. Jetzt tropft beim Trinken sicher immer etwas auf meine Hose und ich hasse das einfach. 

Seufzend lasse ich mich in meinen Sessel zurücksinken. Das etwas raue Gefühl des ziemlich abgenutzten Samts auf meinen nackten Oberarmen bringt mich wieder ins Hier und Jetzt. Während ich meinen Blick durch den Gastraum schweifen lasse, verfliegt mein Ärger. 

Das Café nimmt das ganze Erdgeschoss eines alten Palais im Stadtzentrum von Terenberg ein, der Hauptstadt des kleinen, in der Nordsee gelegenen Landes Terengien, in dem ich lebe. Zwischen prunkvollen Marmorsäulen leuchten die roten Polstersessel strahlend hervor und geben dem ansonsten etwas kalt wirkenden Raum eine heimelige Atmosphäre. Fast alle Tische sind besetzt. Jetzt in der Früh hauptsächlich mit einheimischen Geschäftsleuten, die sich hier auf einen Kaffee oder ein Frühstück treffen. Die Touristen werden hier erst in ein paar Stunden einfallen. Ich liebe dieses entspannte Gemurmel, das mich umgibt.

Mein Blick bleibt an einem Mann hängen, der gerade die schwere Holztür mit ihren Bleiverglasungen geöffnet und das Café betreten hat. Trotz der dicken Winterjacke, dem karierten Schal und der tief ins Gesicht gezogenen Mütze erkenne ich ihn sofort.

Ich weiß, wer er ist.

Ich weiß, wann wir das letzte Mal miteinander gesprochen haben.

Es ist auf den Tag genau sechs Monate her – auch einer der Gründe, warum ich heute hier sitze. 

Ich konnte nicht alleine sein.

Nicht heute.

Meine eigenen vier Wände waren zu eng. Ich brauchte die beruhigenden Geräusche normaler Menschen um mich, das herzliche Lachen der beiden jungen Studentinnen zwei Tische weiter, das Schlürfen des herrlichen Kaffees von der aufgetakelten alten Dame mit Pelzhut, das Klappern des Geschirrs von den beiden Herren in Anzügen. Nicht die von in höchster Panik schreienden oder vor Angst unnatürlich ruhig seienden; keine Erinnerungen an den schlimmsten Tag meines Lebens.

Ich dränge die aufkeimenden Gefühle zurück, schaffe es aber nicht, meine Augen von dem Mann abzuwenden, der sich nun suchend in dem großen Raum umsieht.

Und dann passiert es, bevor ich auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden habe, dass das möglich wäre: Sein Blick findet den meinen.

Oskar

Ich erstarre und mein Herzschlag tut es mir gleich. Aber es ist nicht nur mein Körper, der innehält, auch alle Geräusche aus der Umgebung sind auf einmal weg. Kein Klappern vom Geschirr. Keine Gesprächsfetzen, die von den Tischen zu mir dringen. Keine Musik. Es ist, als hätte jemand auf den Mute-Button gedrückt, nur dass dieser die ganze Welt verstummen lässt. 

Aber es ist nicht nur die Welt, es ist mehr. So, als wäre die Zeit stehengeblieben. 

Wie lange dieser Zustand anhält, weiß ich nicht. Sekunden? Stunden? Die wasserblauen Augen, die mir direkt in meine Seele schauen, halten mich gefangen. 

Sind sie es, die die Zeit angehalten haben?

Ich wusste sofort, wem sie gehören: Jonathan.

Seit wir vor sechs Monaten beide Opfer einer Geiselnahme in einem terengischen Gerichtsgebäude wurden, geht mir der Mann nicht mehr aus dem Kopf. Es war der schlimmste Tag meines Lebens und ich weiß nicht, ob ich ihn ohne Jonathan an meiner Seite – als mein Anker, meine Stütze – hätte überstehen können.

Er war da und hat mich gehalten, während wir uns mit zwei Polizisten in einem kleinen Seitenraum des Gerichtssaals versteckt hielten, in dem an diesem Tag der Prozess gegen die Drahtzieher des Menschenhändlerrings FAIR verhandelt werden sollte. Eigentlich sollte ich über den Eröffnungstag des Verfahrens berichten, aber es kam ganz anders. Das Gebäude wurde von einer paramilitärischen Gruppe erstürmt und alle Anwesenden als Geiseln genommen. Ich hatte noch Glück, dass ich durch Zufall in dem kleinen Versteck gelandet bin und somit nicht von den Besatzern über Stunden mit Waffen bedroht wurde. Wir waren zwar nicht in Sicherheit, aber selbst der geringe Schutz der Holztür zwischen uns und den Geiselnehmern war schon eine Erleichterung. Und Jonathan. Er hat meine Hand gehalten, als wir den erfolgreichen Fluchtversuch gewagt haben – vorbei an zig schwerbewaffneten Männern, die ihren Clan-Anführer befreien wollten und über 50 Geiseln in ihrer Gewalt hatten. 

Ich träume bis heute von Jonathans Sandelholzduft. Er gibt mir Sicherheit.

In den letzten Monaten habe ich regelmäßig mit einer Therapeutin darüber gesprochen. Das Geschehene verarbeitet. Oft kamen mir dabei Fragen in den Kopf, die ich mich aber nie zu beantworten getraut habe: Habe ich Jonathan in meinem Kopf nur idealisiert? War es nur dieses traumatische Erlebnis, das uns zusammengeschweißt hat? Und die allerschlimmste Frage von allen: Ist er vielleicht gar nicht so toll, wie ich ihn in Erinnerung habe?

Ich habe mich nicht einmal getraut, ihn zu googeln. Ja, ich kenne nur seinen Vornamen, aber da ich weiß, dass er Journalist ist, hätte ich ihn sicher finden können. Doch ich hatte Angst, dass das alles schlimmer machen könnte – die Wunde wieder aufreißen könnte. Oder – schlimmer noch – dass ich dann die Entscheidung treffen müsste, was ich mit der Information anfangen würde. 

Es ist recht wahrscheinlich, dass ich eine E-Mail-Adresse oder Telefonnummer gefunden hätte, wenn ich danach gesucht hätte. Aber dann? Hätte ich den Mut gehabt, Jonathan anzuschreiben? Hätte er überhaupt etwas von mir hören wollen? Oder hätte ich bei ihm nur die kaum verheilte Wunde wieder aufgerissen – so wie es bei mir gewesen wäre? Es hätte mir das Herz gebrochen, dem Mann, der mir so viel gegeben hat, wehzutun. 

Vielleicht macht mich das zu einem schlechten Reporter. Eine meiner wichtigsten Eigenschaften ist, dass ich unglaublich neugierig bin und es normalerweise liebe, Geheimnissen auf den Grund zu gehen – auf so etwas wie das Rätsel um Jonathans Identität hätte ich mich normalerweise gestürzt. Wobei es ja kein echtes Geheimnis ist. Dass ich nur seinen Vornamen kenne, ist einzig und allein den Umständen geschuldet. 

Und meiner Angst … 

Meine Gedanken drehen sich wieder einmal im Kreis, während mein Blick sich nicht von Jonathans Gesicht lösen kann.

Er ist mir in den letzten beiden Monaten bereits zweimal über den Weg gelaufen. Beide Male hat er mich nicht bemerkt. Er scheint beim Gehen gerne Musik zu hören. Oder Hörbücher? Jedenfalls hat er immer große Kopfhörer auf, die über die ganzen Ohren gehen, und scheint die Welt um sich herum kaum wahrzunehmen.

Beide Male bin ich stehen geblieben – so wie jetzt. Aber beide Male ist er an mir vorbei gegangen, bevor ich mich aus meiner Starre lösen konnte. Und beide Male ist er in einer der kleinen Gassen in der Terenberger Altstadt verschwunden, bevor ich die Kontrolle über meinen Körper wiedererlangen konnte.

Hätte ich ihm nachlaufen können? In diesen Momenten dachte ich: Nein. Aber wenn ich ganz ehrlich zu mir selbst bin, hätte ich das schon können. 

Doch da war wieder diese Angst. 

Hätte Jonathan mich überhaupt sehen wollen?

Der Gedanke an ihn bringt mir so viel Trost. Und er lässt gewisse Körperteile von mir hart werden.

Aber was wäre, wenn er mich gar nicht sehen wollen würde? Wenn ich für ihn nicht mehr wäre als eine schmerzhafte Erinnerung an etwas, das er zu vergessen sucht? 

Ich glaube, mein Herz könnte das nicht überleben. 

Aber wie es aussieht, ist meine Schonfrist vorbei.

Die Stunde der Wahrheit ist gekommen. 

Jetzt gibt es kein Ausweichen. Keine Ausreden. Keiner von uns kann bestreiten, dass er den anderen nicht gesehen hätte.

Da hebt Jonathan die rechte Hand. Mein Gehirn braucht einen Moment, bis es die zögerliche Geste interpretiert hat: Er winkt mir zu – zwar mit einem etwas schiefen Lächeln auf den Lippen, aber nicht unfreundlich.

Diese beinahe etwas linkisch ausgeführte Begrüßung ist meine Erlösung. Sie ist es, was nötig war, um die Starttaste zu drücken und meine Welt wieder zum Laufen zu bringen. 

Mein Herz schlägt wie wild in meiner Brust, als müsse es die verpassten Schläge wieder aufholen. Meine Lungen saugen Sauerstoff tief in meinen Körper. Und auch alle Geräusche der Umgebung sind so plötzlich wieder da, dass ich erschrecke.

Ohne dass ich die bewusste Entscheidung dafür getroffen hätte, spüre ich, wie ich auch meine Hand hebe. Wie ich die Begrüßung spiegle, die Jonathan mir hat zukommen lassen.

Ein Lächeln breitet sich auf seinem wunderschönen Gesicht aus und mir ist, als würde die Sonne an diesem grauen Tag im Februar plötzlich mit ihrer vollen Strahlkraft das ganze Café zum Leuchten bringen. 

Lust auf mehr?